Medientagebuch: Die allerhöchste Auflage

Nr. 5 –

Ein Boom nach den Morden in Frankreich.

An die Tage und Wochen nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo» vom 7. Januar dieses Jahres wird sich die französische Medienwelt noch lange erinnern. Nicht nur, weil die «Ausgabe der Überlebenden» der attackierten Wochenzeitung, die am 14. Januar erschien und weiterhin an den Kiosken erhältlich ist, bereits jetzt die höchste Zeitungsauflage aller Zeiten in Frankreich erreicht hat. Erst sollten eine Million, dann drei, dann fünf Millionen Exemplare gedruckt werden. Heute steht fest: Über sieben Millionen der historischen Ausgabe wurden gedruckt und übers Land verteilt.

In den ersten Tagen bildeten sich ab halb sechs Uhr früh oft lange Schlangen von «Charlie»-KäuferInnen vor den Kiosken. Manche HändlerInnen liessen sich auf das Spiel von Vorbestellungen und vorab reservierten Kontingenten ein; anderen war das zu blöd. Am ersten Verkaufstag wurden «Charlie Hebdo»-Exemplare auf dem Schwarzmarkt in Montpellier für 35 Euro das Stück verkauft – statt der offiziellen 3 Euro. Inzwischen ist nicht mehr die erste Ausgabe nach dem Attentat die am meisten begehrte – eine Folgenummer wird erst in mehreren Wochen erwartet –, sondern jene, die am Tag des Attentats in einer Auflage von höchstens 60 000 Exemplaren erschien. Sie wird bei eBay mitunter für mehrere Tausend Euro angeboten.

Die ungewöhnliche Jagd nach Zeitungsexemplaren bezog sich nicht bloss auf «Charlie Hebdo». Ebenso schnell fast nicht mehr erhältlich war in der zweiten Januarwoche die auf Investigation und Satire spezialisierte Wochenzeitung «Le Canard enchaîné». Auf dieses Blatt griffen viele enttäuschte KäuferInnen zurück, die keinen «Charlie» erhielten. Die Identifikation scheint von der einen Zeitschrift auf die andere übergesprungen zu sein. Beide haben denselben Erscheinungsrhythmus und publizieren oft auch Zeichnungen in ähnlichem Stil. Wie die konservative Tageszeitung «Le Figaro» vergangene Woche schrieb, kam der Hype um die tragischen Ereignisse bei «Charlie Hebdo» letztlich aber der gesamten Presse zugute: Die grossen Tageszeitungen verkauften nach dem 8. Januar durchschnittlich eine Million Exemplare pro Tag statt zuvor 600 000. Das Internet, das vor Verschwörungstheorien über die Attentate rauschte, und die flache Gratispresse scheinen den Menschen in so einer Situation nicht zu genügen.

National und international hat die «Ausgabe der Überlebenden» von «Charlie Hebdo» bekanntlich auch Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil die Zeitung erneut eine Karikatur des Propheten auf den Titel setzte: einen weinenden Mohammed mit dem Satz «Alles ist verziehen!», nachdem die Attentäter behauptet hatten, mit ihren Morden gerade solche Zeichnungen zu rächen. Diese Entscheidung der Redaktion ist im Volk umstritten: 41 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen äusserten sich in einer Meinungsumfrage dagegen, unter anderem aus Furcht vor noch stärkeren internationalen Verwicklungen. Nach Erscheinen kam es denn auch zu wiederholten, teilweise militanten Protesten in Pakistan, Afghanistan, Algerien, im Sudan, im Niger und in Mali. Im Niger verbrannten vier Menschen bei einem Angriff auf ein französisches Kulturzentrum.

Niemand wird glauben, allein die Karikaturen seien der Auslöser solcher Demonstrationen. Offensichtlich sind sie aber ein Kristallisationspunkt, ein Katalysator für eine bestimmte Reaktion. Gerade in Ländern wie dem Niger wird Frankreich wegen seiner neokolonialen Politik von vielen gehasst.

Bernard Schmid schreibt für die WOZ 
aus Paris.