Vor siebzig Jahren : Wie erinnern an Auschwitz?

Nr. 5 –

Der Holocaust wurde jahrzehntelang verdrängt oder politisch instrumentalisiert, bevor er global ins kollektive Bewusstsein gelangte.

Dieser Tage jährt sich zum 70. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee. In keinem anderen KZ hatten die Nazis so viele Menschen ermordet wie in den weitläufigen Lagerkomplexen von Auschwitz. Die Forschung geht heute von 1,1 Millionen Opfern aus.

Das erste KZ mit dem Namen Auschwitz war ursprünglich ein Lager, in dem polnische Kriegsgefangene interniert wurden. Später schleifte die SS das nahe gelegene Dorf Brzezinka und liess Gefangene auf dessen Boden einen riesigen Komplex aus Baracken, Gaskammern und Krematorien bauen, alle mit Bahngleisen verbunden. Die Nazis gaben diesem zweiten Lager den Namen Birkenau. Hier wurde ab Oktober 1941 das industrialisierte Töten der europäischen Jüdinnen und Juden praktiziert. Wer bei der Ankunft als nicht arbeitsfähig eingestuft wurde, kam direkt in die Gaskammer. Die meisten anderen wurden getötet, nachdem sie eine Zeit lang als SklavInnen gearbeitet hatten und nicht mehr einsetzbar waren. Viele starben zudem an Hunger, Kälte, Unterernährung und Krankheiten.

Der italienische Jude Primo Levi überlebte Auschwitz. In seinem Buch «Ist das ein Mensch?» schildert er das Lagerleben, als «erbarmungslosen, natürlichen Selektionsprozess». Wer ausführte, was befohlen wurde, nur essen konnte, was an Ration zugeteilt wurde, und die Arbeits- und Lagerdisziplin befolgte, der überlebte «nur in Ausnahmefällen» drei Monate. Das Lager überlebt hätten vielfach nur jene, die es irgendwie geschafft haben, eine privilegierte Arbeit zu ergattern, sei es als Köchinnen, Pfleger, Nachtwachen oder auch HilfsaufseherInnen. Levi gelang es, als Chemiker eine Stelle in den nahe gelegenen Buna-Werken zu bekommen. Eine andere Gruppe habe überlebt, weil es ihnen gelang, gegen den Strom zu schwimmen, «Tag um Tag, Stund um Stund gegen die Mühe anzugehen, gegen den Hunger, gegen die Kälte, gegen das Sichgehenlassen». Das Überleben stellte oft eine «nicht geringe Summe von Verirrungen und Kompromissen dar». Gefangene sahen sich gezwungen, alle Gewissensregungen «abzutöten», schreibt Levi. Es gab ein «Überleben ohne Erbarmen».

Die SS trieb rund 60 000 verbliebene Gefangene von Auschwitz vor der anrückenden Roten Armee auf Todesmärschen Richtung Westen, rund ein Viertel starb dabei. Die Gaskammern und Krematorien wurden von der SS gesprengt, wohl im Versuch, die Zeugnisse des Genozids zu vernichten. Einige Tausend Kranke wurden zurückgelassen – darunter Levi. Was er fühlte, als die ersten Soldaten der Roten Armee auftauchten, beschreibt er in seinem Werk «Atempause».

Das Erinnern an Auschwitz wurde in den ersten Jahrzehnten danach vielfach verdrängt. Levis Buch etwa, 1947 auf Italienisch erschienen, wurde erst 1961 auf Deutsch übersetzt. Strafprozesse gegen die Verantwortlichen von Auschwitz fanden in Deutschland erst in den sechziger Jahren statt. In Polen wurde das Gedenken an Auschwitz vom Staat instrumentalisiert. 1947 erklärte das Parlament Auschwitz zum Denkmal an das Martyrium der polnischen Nation und anderer Völker. Dass zu einem sehr grossen Teil Jüdinnen und Juden aus ganz Europa in Auschwitz ermordet wurden, fand keine Erwähnung. 1960 wurden in einem Teil der stehen gebliebenen Baracken nationale Erinnerungspavillons errichtet, 1967 nach einer langwierigen Planung ein internationales Mahnmal für «die Opfer des Faschismus» eröffnet, ein spezieller jüdischer Pavillon von 1967 bis 1978 wegen angeblicher Renovationsarbeiten geschlossen. Erst nach 1989 wurde in der polnischen Regierung auch aufgrund von Vorschlägen jüdischer Intellektueller über eine Neugestaltung des Auschwitz-Museums nachgedacht und diese allmählich umgesetzt.

Im vergangenen Jahr haben 1,3 Millionen Menschen Auschwitz und sein Museum besucht. Das Erinnern an den Holocaust ist über die Jahrzehnte, Schritt für Schritt, zu einer globalen Aufgabe geworden. 1979 erklärte die Unesco Auschwitz zum Weltkulturerbe. Seit 2005 wird der 27. Januar – der Tag der Auschwitz-Befreiung – von der Uno als Holcaustgedenktag begangen.