Medientagebuch: Internationalistisch

Nr. 6 –

Wolf Kantelhardt über Nackte in China

Ein «nackter Beamter» ist in China nicht etwa einer, der sich – wie der Parteivorsitzende des Bezirks Chongqing Lei Zhengfu – bei sexuellen Ausschweifungen filmen lässt. Lei hatte in dem von einem Erpresser heimlich aufgenommenen Video zwar auch nichts an, doch ein «nackter Beamter» ist im chinesischen Sprachgebrauch einer, der seine ganze Familie ins Ausland schickt – aus was für Gründen auch immer. Die staatlichen Medien erklären, dass solche Beamten nicht unbedingt korrupt sein müssten. Allerdings hätten sie es leichter, auch Geld ins Ausland zu schaffen – das sende schlechte Signale aus, und sie müssten sich daher Fragen zu ihrer Arbeitseinstellung gefallen lassen.

Bisher hat nur die südchinesische Provinz Guangdong dem öffentlichen Druck nachgegeben und ihre Beamten von der eigenen Disziplinarkommission unter die Lupe nehmen lassen. Über 1000 «nackte Beamte» wurden gefunden. Mehr als 900 davon ignorierten die Aufforderung, ihre – zum Teil im Ausland eingebürgerten – Familien zurückzuholen oder eine befriedigende Erklärung für deren Fernbleiben zu liefern. Sie wurden entweder degradiert oder entlassen. Prominentester «nackter Beamter» war der Vizeparteisekretär der Provinz. Er musste sechzig Tage vorzeitig in den Ruhestand gehen. «Kein Zweifel, dass dies ein echter Durchbruch ist», sagte Ding Yuanzhu, Vizedirektor des Beratungsstabs der chinesischen Beamtenhochschule: «Das ist das erste Mal, dass die Öffentlichkeit Daten und Details über ‹nackte Beamte› aus einer offiziellen Quelle erhalten hat.»

Aus inoffiziellen Quellen konnte man sich schon länger darüber informieren. Und nicht nur Beamte erwiesen sich als «nackt»: Im chinesischen Internetdienst «WeChat» (vergleichbar mit «WhatsApp») wurde nun enthüllt, dass im Filmepos «Die Gründung einer Republik» von 2009 viele «nackte SchauspielerInnen» zu sehen seien. Alle züchtig bekleidet natürlich – es wird auf «WeChat» auch darüber gespottet, dass bei der historischen TV-Serie «Wu Mei Niang» aus der Zeit der Tang-Dynastie viele Bildausschnitte verkleinert werden mussten, um die zu tiefen Décolletés wegzuzensieren. Das «nackt» bezieht sich auf die Staatsangehörigkeit der allesamt aus China stammenden SchauspielerInnen: USA, Hongkong, Kanada, England, Japan, Deutschland, Australien, Neuseeland, Singapur Thailand und – in einem Fall – die Schweiz.

Der über zweistündige Film erzählt die Geschichte der Volksrepublik, wie sie in den Schulbüchern steht. Auch die «WeChat»-Meldung beginnt mit einem Schulbuchzitat – mit Mao Zedongs Nachruf auf den antifaschistischen US-Arzt Norman Bethune, der 1939 in China starb: «Ohne die Schwierigkeiten eines Weges von Tausenden Meilen zu scheuen, kam er hierher, um China (…) zu helfen», schrieb Mao: «Was für ein Geist spricht daraus, wenn ein Ausländer, ohne auch nur den geringsten Vorteil zu suchen, die Sache der Befreiung des chinesischen Volkes zu seiner eigenen Sache macht? Das ist der Geist des Internationalismus.»

Bei «WeChat» heissts nun parodistisch: «Was für ein Geist spricht daraus, wenn eine Gruppe ausländischer Freunde, ohne die Schwierigkeiten eines Wegs von Tausenden Meilen zu scheuen, nach China kommt, um hier einen Historienfilm zu drehen?» Darauf folgt eine lange Liste hochrangiger Offiziere, Volkskongressabgeordneter und führender Parteimitglieder, die alle ebenfalls fremde Staatsangehörigkeiten erworben haben und weiterhin China dienen. Im Geist des Internationalismus?

Wolf Kantelhardt schreibt für die WOZ 
aus China.