Personenrätsel: Der wissbegierige Bauernsohn

Nr. 6 –

«Dieser hochmütige, gottlose Voltaire!», schäumte der Pfarrer, und weil er seinem Hass gegen diesen Freimaurer!, diesen Ketzer!, diesen Antichristen! von der Kanzel herab freien Lauf liess, ging bald die Parole durchs Dorf: «Erstechen, seine Brut umbringen, das Haus verbrennen!» Der bedrohte Landwirt musste sich für einige Zeit vor dem erzkatholischen Mob nach Bludenz retten. Ruhe gab der 27-Jährige nach seiner Rückkehr allerdings nicht, er wollte weiterhin der «Wahrheitsgeiger» sein, auch wenn man ihm dafür «die Geige am Kopf zerschlagen sollte».

Als Sonderling galt der 1839 in Schoppernau geborene Vorarlberger früh. Obwohl er kaum etwas sehen konnte – das eine Auge war trüb, das andere hatte ihm ein betrunkener Arzt ruiniert –, las er alles, was er in die Finger bekam. Mit dreizehn bereits bezog der Bauernjunge und Halbwaise eine Zeitschrift im Abonnement, was damals höchstens einem Arzt oder Pfarrer anstand. Später besorgte sich der Autodidakt, wann immer es die Hofarbeit zuliess, auch Bücher: europäische Klassiker, agrarwissenschaftliche Abhandlungen, Werke über Ökonomie, Sozialismus und die Genossenschaftsbewegung.

Je mehr der spätere Gemeinderat über die Welt erfuhr, desto klarer erkannte er, dass vieles im Argen lag im Bregenzerwald. Die BäuerInnen waren hier zwar seit Jahrhunderten frei, lebten aber in prekären Verhältnissen – in Unwissenheit gehalten von einem allmächtigen Klerus, ausgenutzt von «Käsgrafen», die den Milchpreis diktierten und unbezahlbare Kredite vergaben, von Ostschweizer Textilhändlern, die den Heimarbeiterinnen für ihre Stickereien Hungerlöhne zahlten, von einer rücksichtslosen Holzindustrie. 25-jährig legte der Demokrat los, als ob er geahnt hätte, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde. Er gründete einen Handwerkerverein und eine Käsereigenossenschaft, rief einen Viehversicherungsverein ins Leben, eröffnete eine Volksbibliothek mit Lese- und Debattierraum und hob eine Partei aus der Taufe, die sich – ein Novum im Habsburgerreich – für die Interessen der Bauern und Arbeiter einsetzte. Dass er sich dadurch viele Feinde machte, bestärkte ihn nur.

Auch als Schriftsteller machte er sich nun einen Namen. Er verfasste für deutschsprachige Zeitschriften Artikel und Erzählungen, und sein Roman «Sonderlinge» wurde sogar ins Holländische übersetzt. Doch dann starb plötzlich seine Frau (manche munkeln, sie sei ermordet worden, um den Sozialreformer zu stoppen), und der fünffache Vater verlor allen Lebensmut.

Wer war der 1869 verstorbene, erste Genossenschaftsgründer der Donaumonarchie, der für die Landbevölkerung sozialkritische Dorfgeschichten schrieb und dabei grosse Literatur schuf?

Wir fragten nach dem österreichischen Schriftsteller und Sozialreformer Franz Michael Felder (1839–1869). Zusammen mit seinem Schwager Kaspar Moosbrugger gründete er 1866 die frühsozialistische Vorarlberg’sche Partei der Gleichberechtigung. Nach seinem Tod versuchte der Dorfpfarrer Johann Georg Rüscher, ein Felder-Denkmal auf dem Friedhof zu verhindern, brachte damit jedoch die Frauen gegen sich auf, die in einen Beichtstreik traten. Empfehlenswerte Literatur: der Ausstellungskatalog «Ich, Felder. Dichter und Rebell» des Vorarlberg-Museums und Felders Autobiografie «Aus meinem Leben». Siehe auch www.felderverein.at.