Vor der Knesset-Wahl: «In Israel gibt es keine Linke mehr»

Nr. 9 –

Die Arbeitspartei Israels erlebt ein erstaunliches Revival. Doch das lässt den linken Historiker Moshe Zuckermann kalt. Denn der Zionismus stecke so oder so in einer Sackgasse.

Wenn in Israel am 17. März ein neues Parlament gewählt und eine neue Regierung gebildet werden, muss der rechtsnationale Likud erstmals seit vielen Jahren um die politische Vorherrschaft bangen.

Uri Avnery, ein Pionier der israelischen Friedensbewegung, frohlockte schon im Dezember nach der ersten Umfrage, deren Resultate seien «fantastisch»: Die Arbeitspartei, die von vielen «für klinisch tot gehalten wurde», könnte in einem neuen Bündnis «grösste Partei in der nächsten Knesset» werden. Und Arbeitspartei-Chef Jitzhak Herzog könnte schaffen, was kurz zuvor niemand für möglich gehalten habe: den dominanten Likud-Chef Benjamin Netanjahu – zuweilen «King Bibi» genannt – als Regierungschef abzulösen.

Auch heute, einen Monat vor der Wahl, erscheint ein solches Szenario realistisch. Gemäss fast täglich erscheinenden Befragungen liefern sich die beiden grossen Lager ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Das sieht Moshe Zuckermann, ein Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv, nicht anders. Als Sohn von Schoah-Überlebenden, die nach wenigen Jahren in Israel aus wirtschaftlichen Gründen ins Nachkriegsdeutschland emigrierten, entschloss er sich als Zwanzigjähriger zur Rückkehr nach Israel. Er gilt als einer der profundesten Kenner – und Kritiker – der israelischen Politik.

«Netanjahu hat sich durch seine Misserfolge in weiten Teilen der israelischen Wählerschaft verhasst gemacht», sagt Zuckermann bei einem Treffen in Zürich. Und die Misserfolge fallen ausgerechnet in die beiden Kernkompetenzen des selbst ernannten Militär- und Wirtschaftsführers: «Sicherheitspolitisch war etwa der Ausgang des letztjährigen Gazakriegs kein Ruhmesblatt», sagt Zuckermann. «Natürlich redet in Israel niemand von den über 2000 palästinensischen Opfern – aber fast 70 tote israelische Soldaten, das ist für uns viel. Dabei ist selbst rein militärisch betrachtet überhaupt nichts gelöst worden; der Countdown zum nächsten Krieg läuft bereits.» Wirtschaftspolitisch habe Netanjahu ebenfalls versagt, ungeachtet des Wachstums im letzten Quartal: «Unter den reichen Ländern verzeichnet Israel die zweithöchste soziale Ungleichheit und die höchste Armutsrate bei Kindern. Netanjahu betreibt eine äusserst rabiate Form des Kapitalismus», so das Fazit des marxistischen Historikers.

Rechte Selbstzerfleischung

Die Arbeitspartei steigerte allerdings ihre Chancen auch selbst, weil sie eine geschickte Bündnisstrategie verfolgt, während das rechte und das religiöse Lager unter fatalen Trennungen leiden. Netanjahu trieb die Schwächung des Likud gleich selbst voran: Anfang Dezember entliess er den Finanzminister Yair Lapid und die Justizministerin Tzipi Livni aus seinem Kabinett – womit der Likud seine bedeutenden Koalitionspartner aus der rechten Mitte verlor: Jesch Atid und Hatnua. Daraufhin beschloss die Knesset ihre Auflösung und die Neuwahlen. Zuvor hatte sich schon der beliebte Kommunikations- und Wohlfahrtsminister Moshe Kahlon, der dem gemässigten Likud-Flügel angehörte, von seiner Mutterpartei abgenabelt und die neue sozial-konservative Mittepartei Kulanu gegründet.

Auf der anderen Seite erkannte die über Jahrzehnte dominante Arbeitspartei, dass sie heutzutage keine Chance mehr hat, alleine Wahlen zu gewinnen. Sie gab kurz nach Tzipi Livnis Entlassung ein Bündnis mit Hatnua bekannt – die Zionistische Union war geboren.

Zudem haben sich auch alle arabischen Parteien sowie die sozialistisch-friedensbewegte Chadasch zusammengeschlossen. Diese erstaunliche «Gemeinsame Liste», die etwa Islamisten und Kommunistinnen zusammenbringt, erhält nun die historische Chance, drittgrösste Kraft in der neuen Knesset zu werden. Ironischerweise war der arabisch-antizionistische Zusammenschluss eine Folge einer umstrittenen Wahlrechtsreform der Netanjahu-Regierung: Um die oppositionellen Kleinparteien weiter zu schwächen, wurde eine Wahlhürde von 3,12 Prozent eingeführt – somit muss eine Partei mindestens vier Sitze erreichen, um überhaupt in die Knesset zu kommen.

Solch pragmatische Gründe hielten die zerstrittene Führung der Schas, der Partei der orientalischen Ultraorthodoxen, nicht davon ab, sich zu demontieren. Nun hat der zwischenzeitliche Vorsitzende Eli Jischai eine rechtsextreme Abspaltung gegründet, die nur mit Glück über die Wahlhürde kommen wird. Und der frühere und aktuelle Vorsitzende Arje Deri führt jetzt die ziemlich sozial ausgerichtete Restpartei an, die das Quorum locker erreichen wird und als Koalitionspartner der Zionistischen Union infrage kommt (vgl. «Ein Koalitionskrimi» im Anschluss an diesen Text).

Verkümmerte Friedensbewegung

Moshe Zuckermann erwartet allerdings, ganz anders als Avnery, vom Wahlausgang herzlich wenig: «Selbst wenn es eine Mitte-links-Regierung geben würde, käme es in der für Israel wirklich existenziellen Frage bestimmt zu keinem Wandel – denn keine der dominanten Parteien will die Friedensfrage angehen.» Mittlerweile sei klar, dass Israel den Palästinakonflikt nicht lösen wolle: «Den Frieden gibt es nur zu dem Preis, dass sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückzieht. Das zu fordern, wagt in Israel niemand mehr. Der, der das vor über zwanzig Jahren tun wollte, ist sogar umgebracht worden.»

Anfang der neunziger Jahre setzte Jitzhak Rabin, der damalige Ministerpräsident aus der Arbeitspartei, zusammen mit dem Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Jassir Arafat, den Oslo-Friedensprozess in Gang. 1995 erschoss ein jüdischer Extremist Rabin explizit wegen dieser Friedenspolitik. Zuckermann sieht den Mord am Friedensstifter als Symptom für den späteren Zusammenbruch des Friedensprozesses – und für das Ende der politischen Linken Israels: «Als der Oslo-Prozess im Juli 2000 scheiterte und kurz darauf die zweite Intifada ausbrach, legten nicht nur die Politiker, sondern auch viele linke Intellektuelle die Friedensoption ad acta», sagt Zuckermann. «Ich erinnere mich an Zeiten, da konnte die Friedensbewegung Peace Now mit einem Fingerschnippen 80 000, 100 000 Menschen auf die Strasse bringen. Heute mobilisieren sie keine 5000 Menschen mehr.»

«Es gibt in Israel keine Linke mehr», resümiert Zuckermann. «Zur Zeit Rabins gab es noch einen starken und visionären linken Zionismus, heute wird jeder schmähend als links bezeichnet, der nicht zur dominanten extremen Rechten gehört.» In der Tat kommt etwa Herzog, der «linke Kandidat» für das Ministerpräsidentenamt, vom rechten Flügel der Arbeitspartei. Im neusten Kampagnenspot wirft er Netanjahu vor, die im Gazastreifen regierende islamistische Partei Hamas nicht schon früher und härter bekämpft zu haben. Nicht zu reden von Herzogs Verbündeter Livni, die heute als eine Linksliberale gehandelt wird, früher aber dem Likud angehörte und offen für ein Grossisrael einstand.

Soziale Korrekturen?

Ein Ministerpräsident Herzog könnte Israel immerhin aus der internationalen Isolation befreien. Denn Netanjahu düpiert inzwischen gar engste Verbündete wie die USA, wie die Posse um seinen baldigen US-Besuch illustriert: Die US-RepublikanerInnen hatten Netanjahu hinter dem Rücken von Präsident Barack Obama zu einer Rede vor beiden Kammern des Kongresses am 3. März eingeladen. Darin wird der israelische Wahlkämpfer öffentlichkeitswirksam vor dem Atomdeal mit dem Iran warnen, so wie er das schon seit Monaten mit gezielten Fehlinformationen und Medienmanipulationen getan hat. Mit diesem Auftritt setzt Netanjahu das für Israel existenziell wichtige Verhältnis zur US-Regierung aufs Spiel, nur weil er sich davon Pluspunkte bei seiner Wählerschaft verspricht.

Hingegen käme es laut Zuckermann ausgerechnet im sozialen Bereich höchstens zu leichten Korrekturen: «Der soziale Anspruch der Linken ist von der Arbeitspartei schon vor Jahrzehnten erstickt worden – spätestens 1994, als sie half, die historisch immens wichtige Gewerkschaft Histadrut praktisch auszuschalten.» Diese hatte bis dahin die gesamte Sozialpolitik Israels geprägt und die grösste Krankenkasse des Landes sowie kooperative Unternehmen betrieben.

Der Rechtsrutsch lag im globalen Trend: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet die Sozialdemokratie fast überall in eine Krise: «Sie verlor die Funktion, dem Kommunismus etwas Soziales entgegenzusetzen», sagt Zuckermann. In der Folge rief Tony Blair (Labour) in Britannien «New Labour» aus; Gerhard Schröder (SPD) führte in Deutschland Hartz IV ein. In Israel war alles nur noch etwas dramatischer. «Selbst die kommunistischen Parteien haben sich von der sozialen Frage weitgehend entfernt», sagt Zuckermann.

«Fetischisierung der Sicherheit»

Und dann ist da noch die viel grundlegendere Sache mit dem Zionismus – der Errichtung, Rechtfertigung und Bewahrung des jüdischen Nationalstaats im historischen Palästina, bei der die Arbeitspartei historisch eine Hauptrolle spielte. «Der Zionismus hat sich in eine Sackgasse manövriert», sagt Zuckermann. «Die israelische Staatsideologie hat sich immer über das Negative definiert. Warum musste Israel entstehen? Weil es die Schoah gab. Warum kann es keinen Frieden mit den Palästinensern geben? Wegen der Sicherheitsfrage.» Die Absenz positiver Kategorien im Zionismus habe zu einer «Fetischisierung der Sicherheit» geführt. «Man will gar nie aus dieser Sackgasse heraus», glaubt Zuckermann. «Das spiegelt sich nun auch in der weitgehend alternativlosen Parteienlandschaft. Offenbar glauben die Zionisten selbst nicht daran, dass ihr Projekt historisch längerfristig Bestand haben wird.»

Denn, so ist Zuckermann überzeugt: «Israel kann ohne Frieden längerfristig nicht existieren. Das zionistische Projekt lässt sich nur durch eine Zweistaatenlösung retten, das wissen eigentlich alle Politiker. Die Alternativen wären entweder ein binationales Israel, das den ‹jüdischen Staat› nur schon wegen der wachsenden arabischen Bevölkerung infrage stellen würde, oder ein formaler Apartheidstaat, der irgendwann von der internationalen Gemeinschaft nicht mehr toleriert würde. Der Zionismus braucht die Zweistaatenlösung. Trotzdem torpedieren alle grossen Parteien genau diese.»

Auch die Arbeitspartei hat sich in die zionistische Sackgasse manövriert. Die Wahlen mag sie als alternativlose Alternative mit einigem Glück gewinnen – die Zukunft aber kaum.

Seine Überlegungen zur Krise des Zionismus breitet Moshe Zuckermann in seinem 
neuen Buch «Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt» (Promedia Verlag, Wien 2014) aus.

Wer wird regieren? : Ein Koalitionskrimi

Im parlamentarischen Regierungssystem Israels sind Wahlprognosen mit besonderer Vorsicht zu geniessen. Die höchst komplexe, dynamische Parteienlandschaft erschwert die Vorhersage der Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Nach der Wahl entscheidet der Staatspräsident, welche Partei er zur Regierungsbildung auserwählt – und zwar nicht primär aufgrund der Mehrheitsverhältnisse, sondern aufgrund seiner Einschätzung, welcheR Parteivorsitzende am ehesten dazu imstande ist.

Da die Knesset überaus rechtslastig ist, befindet sich der agierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer besseren Position, Verbündete für eine Regierung zu finden – trotz momentaner Krise seines rechtsnationalen Likud. Die von der Arbeitspartei angeführte Zionistische Union müsste hingegen selbst nach gewonnener Wahl noch beweisen, dass sie eine Koalition um sich scharen kann. Dabei kann sie nur auf die kleine linke Meretz und die liberale Jesch Atid zählen. Eine Koalition mit der arabisch-antizionistischen Gemeinsamen Liste kommt wohl auch für die Zionistische Union – nomen est omen – kaum infrage; sie könnte aber auf deren Rückhalt in der Knesset zählen.

Deshalb kommt die Zionistische Union nicht umhin, wenn möglich die Likud-Abspaltung Kulanu und vor allem die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Thora-Judentum und Schas für eine Mitte-links-Koalition zu begeistern. Besonders die frisch entschlackte Schas-Partei (vgl. Haupttext weiter oben) hat ihre strategische Rolle als Zünglein an der Waage entdeckt und laviert derzeit geschickt zwischen den beiden Lagern.

Markus Spörndli