Durch den Monat mit Simon Jaquemet (Teil 2): Warum wollten Sie unbedingt mit schwierigen Jungs drehen?

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Filmregisseur Simon Jaquemet hat seinen Erstling «Chrieg» weitgehend mit LaienschauspielerInnen besetzt. Das war ein wenig naiv, sagt er. Aber ihre Aggressivität habe den Ausschlag gegeben.

Simon Jaquemet: «Zum Teil ist die Geschichte meiner Darsteller noch tragischer und krasser als das, was sie im Film durchmachen.»

WOZ: Simon Jaquemet, Sie haben den Hauptdarsteller Ihres «Chrieg» am Zürcher Hauptbahnhof gecastet, einen anderen Schauspieler haben Sie in einer Clique entdeckt, die sich abends im Hinterhof der Produktionsfirma traf. Warum war es Ihnen so wichtig, fast mit lauter Laien zu drehen?
Simon Jaquemet: Das war nicht etwa Konzept. Es war einfach so, dass sich die Laien beim Casting in den meisten Fällen gegen die professionellen Schauspieler durchsetzten. Und die Jugendlichen mit schwierigem Hintergrund haben mich halt mehr interessiert als die, die einfach zeigten, dass sie ein schauspielerisches Talent haben.

Hatten Sie denn irgendein Misstrauen gegenüber dem, was Schauspielprofis mit diesen Rollen machen würden?
Überhaupt nicht. Bei der Figur zum Beispiel, die im Film jetzt von Ste gespielt wird, war es bis zuletzt ein enges Rennen zwischen ihm und einem professionellen Schauspieler. Letztlich hat die Aggressivität den Ausschlag gegeben: Die ist bei Ste einfach da. Schon wie er schaut, ist sofort klar: Der weiss, wie man dreinschlägt. Der Schauspieler hätte diese Aggressivität immer zuerst aufbauen müssen. Er konnte das auch richtig gut, der hätte das sicher hinbekommen. Und das wäre wohl auch einfacher gewesen für mich. Aber das andere hat mich mehr interessiert, auch wenn es ein Risiko war.

Sie haben den Hintergrund dieser Jungs angesprochen. Was haben sie denn konkret durchgemacht?
Benjamin Lutzke, der die Hauptfigur Matteo spielt, kommt eigentlich nicht aus problematischen Verhältnissen. Aber er war damals gerade in einer schwierigen Phase: Er hatte die Lehre abgebrochen und war auch sonst dabei abzudriften. Bei Sascha Gisler und Ste entspricht ihr Hintergrund weitgehend dem, was man im Film erahnen kann. Beide sind mit dem Gesetz und diversen Institutionen in Konflikt gekommen, zum Teil ist ihre eigene Geschichte sogar noch tragischer und krasser als das, was sie im Film durchmachen. Darum will zum Beispiel Ste auch nicht, dass man im Detail erzählt, was alles mit ihm passiert ist. Was man sagen kann: Bei ihm wie auch bei Sascha fingen die Probleme damit an, dass sie von ihren Eltern im Stich gelassen wurden.

Sie haben also darauf spekuliert, dass die persönliche Geschichte der Darsteller auf den Film abfärbt. Oder kritischer gesagt: Sie benutzen diese Jungs, um Ihrem Film die gewünschte Authentizität zu verleihen.
Ja. Es gab durchaus Momente, wo die Jugendlichen sich ausgenutzt fühlten und ich deswegen auch von einigen Leuten aus der Crew stark kritisiert wurde. Speziell gegen Ende des Drehs kam es zu einigen Krisensituationen, als alle erschöpft waren und die Motivation bei den Darstellern nicht mehr so hoch war. Ich habe trotzdem viel von ihnen verlangt – und sie haben mir das schlussendlich immer gegeben. Richtig fragwürdig fände ich es, wenn wir die Jugendlichen nach dem Dreh fallen gelassen hätten. Aber das haben wir nicht.

Sie haben die Darsteller also nicht einfach zurück in ihr altes Leben entlassen, als der Film abgedreht war?
Nein. Bei Sascha war es so, dass er unmittelbar vor dem Dreh bei seiner Gastfamilie hatte ausziehen müssen. Während der Dreharbeiten haben wir ihm eine Wohnung bezahlt, und jemand hat für ihn gesorgt. Er wäre also obdachlos gewesen, wenn wir für die Zeit nach dem Dreh keine Lösung für ihn gehabt hätten. Er hat dann zuerst fast zwei Monate bei mir gewohnt, seither wohnt er bei einem der Produzenten. Bei «Chrieg» hat er auch ein Praktikum als Sounddesigner gemacht. Inzwischen hat er sich, glaube ich, ziemlich gefangen. Bei den anderen war es weniger problematisch.

Die Arbeit an «Chrieg» hat sich also in gewisser Weise auch zu einem Sozialprojekt ausgeweitet.
Das war nie die Idee des Films. Aber diese Kids haben so viel gegeben, dass wir natürlich schon eine gewisse Verantwortung für sie tragen. Vielleicht haben wir es auch nicht immer nur gut gemacht. Aber wir haben zumindest versucht, dafür zu sorgen, dass sie nach dem Film nicht schlechter dastehen als davor.

Den ersten Kinofilm mit solchen Laiendarstellern zu drehen: Hat Ihnen das eigentlich niemand ausreden wollen?
Doch, doch, das hat schon zu vielen Diskussionen geführt. Und ich hatte auch ziemlich Schiss.

Hatten Sie Bedenken, dass sich die Jungs Ihrem Einfluss entziehen könnten? Wer Regie führt, übt ja immer auch eine Form von Autorität aus.
Für die letzten Castingrunden haben wir jeweils ein Wochenende in den Bergen zusammen verbracht. Wir kannten die Kids also schon richtig gut, als wir uns entschieden haben, dass wir mit ihnen drehen würden. Ich hatte da zumindest das Vertrauen, dass sie das spielen können. Und sonst … Ich hatte schon Angst, aber ich war wohl auch ein bisschen naiv. Und es ist ja alles gut gelaufen. Aber wenn einem der Kids etwas zugestossen wäre, wäre der Film am Arsch gewesen. Die Produktion war zwar versichert, aber das Risiko, dass einer der Jungs ausfallen könnte, wollte die Versicherung nicht übernehmen.

Simon Jaquemet (36) ist mit «Chrieg» in fünf Kategorien für den Schweizer Filmpreis nominiert, der am 13. März verliehen wird. Eine Besprechung des Films finden Sie auf Seite 21.