Vor 3000 Jahren: Fragen eines meisselnden Arbeiters

Nr. 11 –

Pharao Amenemope starb im Jahr 985 vor unserer Zeitrechnung. Wie lebte zu dieser Zeit dessen Untertan Seth, der Steinhauer?

Die Dekansterne waren an ihren richtigen Platz gerückt. Pharao Amenemope konnte getrost ins Totenreich einfahren. Im März des Jahres 985 vor unserer Zeitrechnung wurde sein Leichnam mit einer Goldmaske versehen, in einen Sarkophag gelegt und in seine Grabkammer in der Königsstadt Tanis eingeschlossen.

Seit 200 Jahren wurden die weichen Bronzeschwerter von den neuen harten Eisenwaffen zerschlagen. Seevölker, wilde Barbaren überrannten das Neue Reich in Ägypten, und andere fremdländische Herrscher kamen an die Macht.

Ein Jahrhundert vor Amenemope hatte dessen Urgrossvater die 21. Dynastie gegründet. Eigentlich waren sie ja Fremde, aus Libyen eingefallen, plündernd und mordend hatten sie sich ins Nildelta vorgekämpft. Widerwillig erkannten die mächtigen Priester in Theben die neuen Machthaber als Pharaonen an.

Amenemopes Vater Psusennes begann mit dem Bau des Tempelbezirks in Tanis. Zwanzig Meter dick war die Mauer, in jahrelanger Arbeit errichtet, von Hunderten von Arbeitern, die in Lehmhütten zusammengepfercht lebten, frühmorgens aufstanden und abends auf die Strohmatten sanken. Seth hatte Glück gehabt, er war geschickt, und so hatte ihn eines Tages ein Aufseher von der Baustelle geholt, wo der Zehnjährige den Arbeitern Steine zugetragen hatte, und zum Steinmetz ausbilden lassen. Nun meisselte er Hieroglyphen in die dicken Mauern, die Blut, Schweiss und Tränen seiner unglücklicheren Kollegen aufgesogen hatten. Er liebte seinen Beruf, die klaren Zeichen im kühlen Gemäuer, aber was er meisseln musste, erfüllte ihn mit Zorn.

Zumeist verherrlichten seine Hieroglyphen Götter und Könige und deren Taten. Die glichen sich verdächtig. Die Götter handelten wie Könige, und die Könige verhielten sich wie Götter. Über Amenemope gab es nicht viel Rühmenswertes zu berichten, und das, fand Seth, war durchaus rühmlich. Denn in all den Heldentaten steckten nur unendliche Schlächtereien. In Kriegen, wenn der vierkantige Pfeil den Lederhelm durchschlug und der Speer in die Eingeweide drang, oder in Treibjagden, das Wild zuhauf abgeschlachtet, die toten Nilpferde im Wasser liegen gelassen, bis ihre Kadaver verfault waren und das Wasser verpesteten.

Ein Namensvetter des damaligen Königs, ein hagerer Beamter, hatte vor ein paar Generationen ein Lehrbuch verfasst, eine Weisheitslehre. Geduld verlangte er, Bescheidenheit – da konnten Seth und seine Kollegen nur lachen. Man flüsterte sich zu, dass es, kurz bevor die Weisheitslehre erschienen war, einen Aufstand auf einer Baustelle gegeben hatte; die Arbeiter waren darauf lebendig eingemauert worden.

Sie alle lebten beengt, während die Aufseher des Pharaos Steinhäuser mit achtzehn Zimmern bewohnten. In vielen standen nur ein paar protzige Möbel, die nie gebraucht wurden. Unkultiviertes Pack. Das hatte ihm die Schwester seiner Frau geschildert, die als Leibeigene in einem Haushalt arbeitete. Immerhin, Brot gab es genug, wenn nur – Ra sei Dank – der Nil seine schlammigen Fluten regelmässig heranwälzte, und Bier konnte man sich gelegentlich leisten. In den Steinhäusern tranken sie ein seltsames Getränk, er hatte einmal eine Inschrift entziffert über eine reiche Gattin, die achtzehn Glas eines Gesöffs namens Wein verlangt hatte, damit sie über das Ehelager mit dem fetten Gatten hinwegkam.

Die zehn Jahre von Amenemopes Herrschaft verliefen in trügerischer Ereignislosigkeit. Nur im Norden schien sich etwas zu regen; dort hatte ein König verschiedene Stämme vereint. Auch das hatte die Schwester seiner Frau aufgeschnappt. David hiess der König, und er schien über eine neue bemerkenswerte Waffe zu verfügen. Eines Tages traf ein kleines fürstliches Gefolge in Tanis ein. Der Anführer, Hadad, hatte sich, so ging das Gerücht um, mit seinen Edomiten gegen diesen David erhoben, war aber besiegt worden; aus geopolitischen Gründen hatte ihm der Pharao Exil gewährt. Wenn es nach Seth gegangen wäre, hätte Hadad im Pfefferland bleiben können. Warum sollte der sein Leben in Müssiggang weiterführen, während seine toten Soldaten in der Jordansenke verrotteten? Voller Zorn meisselte Seth einer königlichen Hieroglyphe den Kopf ab.