Staudammprojekt am Nil: Kampf um die gemeinsame Lebensader

Nr. 15 –

Seit Jahrzehnten streiten Ägypten, der Sudan und Äthiopien über die Verteilung des Nilwassers. Überraschend schlossen die Staaten nun ein Abkommen: Kairo verliert damit die Kontrolle über seine wichtigste, knapper werdende Ressource.

Der Nil und die Staudämme (pink markiert). (Grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ, Quelle: radio-utopie.de

2017 soll das grösste Wasserkraftwerk auf dem afrikanischen Kontinent in Betrieb genommen werden. Der Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm, der bereits zu vierzig Prozent gebaut ist, wird im Nordosten Äthiopiens, an der Grenze zum Sudan, 1700 Quadratkilometer Wald fluten und rund 20 000 Menschen vertreiben.

Aus dem Stausee werden dann schätzungsweise drei Milliarden Kubikmeter Wasser pro Jahr verdunsten. Das entspricht der dreifachen Regenmenge ganz Ägyptens und dem Wasserverbrauch einer halben Million Menschen. 98 Prozent der Wasserversorgung Ägyptens speist sich aus dem Nil. Deshalb lehnte die Regierung in Kairo das Projekt stets vehement ab. Doch nun lenkt sie plötzlich ein und will von den negativen Konsequenzen des Damms nichts mehr wissen. Was ist passiert?

Nachdem die äthiopische Regierung 2011 mit dem Bau des 4,7 Milliarden US-Dollar teuren Staudamms begonnen hatte, spitzte sich der Konflikt zwischen den neun Nilanrainerstaaten zu. Ägypten hat sich stets geweigert, von seinem traditionellen Recht abzurücken, demzufolge ihm der grösste Teil des Nilwassers zusteht. Und dies, obschon Ägypten mit dieser Politik gegen internationale Abkommen verstösst. «Keinen einzigen Tropfen Nilwasser» dürfe Ägypten verlieren, sagte vor seinem Sturz im Juni 2013 Staatspräsident Muhammad Mursi. Die Regierung in Kairo hatte Addis Abeba indirekt sogar mit Krieg gedroht, sollte Äthiopien zusätzliches Nilwasser für die Bewässerung der Landwirtschaft oder für die Stromproduktion abzapfen.

Recht aus der Kolonialzeit

Schon seit der Kolonialzeit streiten die Länder am Nil darüber, wer das Wasser aus dem grössten afrikanischen Strom wie nutzen darf. Verträge aus den dreissiger Jahren regeln, dass Ägypten und der Sudan über achtzig Prozent des Nilwassers verfügen können, obschon der 6852 Kilometer lange Fluss durch insgesamt elf Länder fliesst. 1959 hielten Ägypten und der Sudan in bilateralen Verhandlungen die Gesamtmenge des verfügbaren Nilwassers fest: Ägypten bewilligte sich jährlich 55,5 Milliarden Kubikmeter und gestand dem Sudan 18,5 Milliarden zu. Die anderen Anrainerstaaten wurden gar nicht erwähnt.

1999 schlossen sich die Anrainerstaaten in der Nile Basin Initiative zusammen, um mit internationaler Unterstützung die praktische Zusammenarbeit aller Nilanrainer zu koordinieren. Ägypten und der Sudan schafften es auch hier, dass ihnen rund 88 Prozent der Wassernutzung zugesprochen wurden. Äthiopien, dessen Staatsgebiet 85 Prozent des Wassers entspringen, wurde nur eine minimale Nutzung zugestanden. Die übrigen Anrainer wurden erneut nicht erwähnt.

Die ständigen Drohgebärden Kairos im Zusammenhang mit dem Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm kamen bei ihnen deshalb schlecht an: Alle haben sich auf die Seite Addis Abebas geschlagen und so gemeinsam Ägypten zum Einlenken bewegt. Auch auf ausserafrikanische Verbündete konnte Kairo in der Wasserfrage nicht zählen: Sie haben in Äthiopien entweder ausgeprägte Wirtschaftsinteressen (etwa Saudi-Arabien) oder sehen das Land als wichtigen Partner im «Kampf gegen den Terror» (Europa und die USA).

Am 22. März dieses Jahres haben Ägypten, der Sudan und Äthiopien nun überraschend eine Grundsatzerklärung unterzeichnet: Die Staatsoberhäupter der drei Länder einigten sich darauf, den jahrzehntealten Konflikt zu begraben. Details wurden keine bekannt. Die nichtstaatliche Organisation International Rivers schreibt, weder die betroffenen Länder noch die Bevölkerung hätten eine Möglichkeit gehabt, sich dazu zu äussern.

Der äthiopische Regierungschef Hailemariam Desalegn beteuerte, dass sich der Staudamm nicht negativ auf den Wasseranteil Ägyptens auswirke. Dennoch werde sein Land eine unabhängige Kommission einberufen, die die Folgen des Damms für den Wasserlauf in Ägypten regelmässig untersuchen soll. Zudem hätten Ägypten und der Sudan ein Vetorecht bei Projekten, die den Flusslauf beeinträchtigten.

Gegen den Treibsand der Armut

Mit der milliardenschweren Investition will Äthiopien nicht nur Strom fürs eigene Land erzeugen. Das Projekt soll zudem die eigene Wirtschaft ankurbeln und das Land bis 2025 zum grössten Energieexporteur auf dem Kontinent aufsteigen lassen. Im November 2012 erklärte Mulugeta Zewdie Michael, Generalkonsul von Äthiopien in Frankfurt am Main, das wichtigste Ziel des Staudamms sei es, Äthiopien «aus dem Treibsand der Armut herauszuziehen». Die Konstruktion des Damms schaffe bis zu 12 000 (meist zeitlich begrenzte) Arbeitsstellen. Zudem sollen dank der Bewässerungsmöglichkeiten durch den neuen Stausee gemeinsame landwirtschaftliche Grossprojekte mit dem Sudan auf 500 000 Hektaren Land möglich werden. Auch der Sudan und Ägypten könnten vom Projekt profitieren, prophezeite Michael. Das Fassungsvermögen der ägyptischen Dämme sinke – unter anderem durch den Schlick, der die Staubecken immer mehr auffülle, sodass sie immer weniger Wasser aufnehmen könnten. Und ein grosser Teil des Sudan leide jedes Jahr an Überschwemmungen. Diese Probleme würde der Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm lösen, so der äthiopische Generalkonsul.

Welches genau die Konsequenzen für die beiden Länder sind, bleibt allerdings umstritten. Die Kosten des Damms dürften zudem wesentlich höher ausfallen als geplant und je nach Quelle auf bis zu sieben Milliarden US-Dollar anwachsen. Zudem bemängelt Asfaw Beyene, Professor für Maschinenbau an der San Diego State University, der sich intensiv mit dem Projekt auseinandergesetzt hat, dass mehr als die Hälfte der vorgesehenen Turbinen meist gar nicht benutzt werden könne, da kaum je genügend Wasser vorhanden sei.

Während der fünf bis sieben Jahre, in denen der Stausee gefüllt wird, muss Ägypten mit einer Einbusse von 12 bis 25 Prozent der Wassermenge rechnen – zusätzlich zur Verdunstung aus dem Stausee. Auch könnte der Damm die Kapazität des ägyptischen Assuan-Staudamms um sechs Prozent verringern.

Einlenken statt Kehrtwende

Erstaunlicherweise stossen solche Bedenken in Kairo neuerdings auf wenig Resonanz. «Der Staudamm stellt ein wichtiges Entwicklungsprojekt für die Bevölkerung Äthiopiens durch die Produktion von erneuerbarer Energie dar», sagte Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Und: «Wir haben uns beim Abkommen darauf verständigt, dass die Wasserversorgung Ägyptens nicht gefährdet wird.» Auch der Assuan-Staudamm werde durch das Projekt am Blauen Nil nicht weniger Strom produzieren können als bisher, prognostiziert Sisi auf einmal.

Das Einlenken Ägyptens kommt trotz aller Bedenken nicht ganz unerwartet: Das Sisi-Regime erkennt in der äthiopischen Führung eine immer wichtigere Partnerin – in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und vor allem bei Fragen der regionalen Sicherheit. Eine dominante Haltung gegenüber Äthiopien kann sich Kairo nicht mehr leisten. Ausserdem ist der Bau des Grand-Ethiopian-Renaissance-Damms schon so weit fortgeschritten, dass er kaum mehr zu stoppen ist. Die Sisi-Regierung erkannte also ein Einlenken als einzige verbleibende Option, um künftig bei den Folgen des Projekts mitreden zu können.

Das entgegenkommende Auftreten Kairos darf aber nicht mit einer grundsätzlichen Kehrtwende in Ägyptens Nilwasserpolitik verwechselt werden. Die ägyptische Annäherung bezieht sich ausschliesslich auf die Konfliktfrage des Grand-Ethiopian-Renaissance-Damms. Der übergeordnete Streit über die grundsätzliche Verteilung und Nutzung des Nilwassers bleibt unberührt.

Und daran wird sich wohl in nächster Zeit auch nichts ändern. Denn nach dem Militärputsch im Jahr 2013 hat die politische Führung in Kairo die historischen Wassernutzungsrechte in die neue ägyptische Verfassung aufgenommen. Eine Fortschreibung dieses Ressourcennationalismus dürfte also auch künftig dazu dienen, vom eigenen Versagen bei der Modernisierung der Wasserinfrastruktur und dem ungenügenden Wassermanagement abzulenken.

Äthiopien im Alleingang

Der 1,8 Kilometer lange und 170 Meter hohe Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm wird seit Dezember 2010 vom italienischen Unternehmen Salini Costruttori gebaut. Der französische Konzern Alstom wird Turbinen und Generatoren für 300 Millionen US-Dollar liefern. Insgesamt soll das Werk 4,7 Milliarden Dollar kosten.

Auf finanzielle Hilfe aus dem Ausland will Äthiopien nach eigenen Angaben gänzlich verzichten. Die NGO International Rivers sagt jedoch, dass Äthiopien sehr wohl auf Geldsuche gegangen, aber an der eigenen Intransparenz gescheitert sei. Nun setzt das Land – es wies 2013 ein Bruttoinlandsprodukt von unter fünfzig Milliarden US-Dollar auf – seine BürgerInnen im In- und Ausland massiv unter Druck, Anteilscheine zu kaufen.

Auf Kosten der Indigenen

Zu den möglichen sozialen und ökologischen Folgen des Grand-Ethiopian-Renaissance-Damms hat sich bis heute keine grössere NGO geäussert. Diverse andere Staudämme in Äthiopien werden allerdings scharf kritisiert – allen voran der Gilgel-Gibe-III-Damm. Das Wasser wird so kanalisiert, dass riesige kommerzielle Plantagen bewässert werden können. Das Nachsehen haben die indigenen Völker des Omo-Tals: Zehntausende seien aus ihrer Heimat vertrieben worden, schreibt die NGO Survival International.

Salini Costruttori, das jetzt auch den Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm errichtet, begann Ende 2006 mit dem Bau von Gibe III. Das empfindliche Ökosystem und damit die Lebensgrundlage der indigenen Völker, die vom natürlichen Verlauf und den jährlichen Überschwemmungen des Omo abhängen, werden laut Survival International zerstört. «Diese Völker leben in der trockenen und schwierigen Umgebung bereits jetzt am Rand der Existenz.»