Eduardo Galeano (1940–2015): Im Haus der Zeit

Nr. 17 –

Sein Buch «Die offenen Adern Lateinamerikas» über die Ausbeutung des Kontinents hat Generationen in Lateinamerika befeuert. Aber Eduardo Galeano feierte auch die Liebe zu Uruguay.

Eduardo Galeano (rechts) mit dem kubanischen Schriftsteller Jesús Díaz (links) und Moderator Erich Hackl im Februar 1992 an einer WOZ-Veranstaltung zum Thema «Schöne Neue Weltordnung». Foto: WOZ

Er entsprach so gar nicht dem Typus des hemdsärmeligen Uruguayers, wie ihn der Anfang März abgetretene Präsident José Mujica, El Pepe genannt, verkörpert. Eher hätte man ihn, seinem Auftreten nach, für einen etwas hochmütigen Intellektuellen aus Buenos Aires halten können: den Schriftsteller Eduardo Galeano, der am 13. April in Montevideo verstorben ist. Aber vielleicht steckte hinter seinem mimosenhaften Verhalten eine grosse Müdigkeit – die Folge von politischer Verfolgung, Angst und Verbannung.

Ein ewiges Ärgernis

Galeano hatte mit fünfzehn Jahren zu arbeiten begonnen, als Laufbursche und Karikaturist, und sich als Erzähler, Reporter und stellvertretender Chefredaktor von «Marcha», der bedeutendsten Wochenzeitung Südamerikas, bereits einen Namen gemacht, ehe er 1973, nach dem Staatsstreich in Uruguay, nach Buenos Aires fliehen musste. Dort leitete er unter Todesgefahr in den Terrorjahren der Antikommunistischen Argentinischen Allianz die linke Zeitschrift «Crisis». Als 1976 auch in Argentinien die Militärs putschten, flüchtete Galeano nach Spanien. In einem katalanischen Badeort entstand sein Hauptwerk «Erinnerung an das Feuer» (1982–1986), eine dreibändige Geschichte Amerikas von den Ursprungsmythen bis zur Gegenwart, aus der Warte der Besiegten, Gedemütigten, Totgeschwiegenen und in der für sein Schaffen typischen Verschmelzung von Chronik und Poesie. Nicht zufällig hat er für sich ein neues Wort kreiert, «sentipensante», eine Kombination aus Fühlen und Denken, seinem Wunsch entsprechend, «Verstand und Emotion miteinander zu verknüpfen». Galeano sah sich nicht als Analytiker, sondern als Erzähler von Geschichten, «die manchmal sehr klein sind, Alltagsgeschichten, in denen ich jedoch den Pulsschlag des Universums zu spüren glaube. Kritische Geschichten, die aber auch das Leben feiern.»

Berühmt gemacht hat ihn jedoch ein Essay, der just als analytisches Werk verstanden wurde: «Die offenen Adern Lateinamerikas» (1971). Der grosse Wurf eines Dreissigjährigen, schwungvoll geschrieben, in dem er die These, dass gerade der Reichtum des Subkontinents die Armut seiner BewohnerInnen verursache, an vielen Beispielen erläuterte. Die klare Darstellung imperialistischer und kapitalistischer Praktiken bestärkte Generationen junger LateinamerikanerInnen in ihrem Verlangen, das herrschende Unrecht zu bekämpfen, und weckte in Europa leidenschaftliches Interesse an den Vorgängen dort. Den rechten Intellektuellen, die sich gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts auch in Lateinamerika formierten, war das Buch ein ewiges Ärgernis. Folgerichtig führte es im «Handbuch des perfekten lateinamerikanischen Idioten» (1996) des Autorentrios Plinio Apuleyo Mendoza, Carlos Alberto Montaner und Álvaro Vargas Llosa die Rangliste der besonders verabscheuungswürdigen Bücher an; Álvaros Vater, Mario Vargas Llosa, der spätere Literaturnobelpreisträger und eifrige Verfechter der freien Marktwirtschaft, schrieb das Vorwort. Die Attacke vermochte der Popularität des Longsellers freilich nichts anzuhaben, und als dreizehn Jahre später Hugo Chávez dem US-Präsidenten Barack Obama ein Exemplar als Geschenk überreichte, stand das Buch über Wochen bei Amazon auf Rang eins.

Kritisiert wurde das umfangreiche Werk auch von links, wegen der Tendenz, das Elend in Lateinamerika vorwiegend als fremdbestimmt wahrzunehmen und dabei die Versäumnisse der eigenen Eliten zu übersehen. Vergangenes Jahr hat Galeano gestanden, dass er nicht mehr imstande sei, sein Buch zu lesen, denn «diese Prosa im Stil der traditionellen Linken ist stinklangweilig».

Nähe und Distanz

Wir lernten uns kennen, als er – wieder in Uruguay, nach der Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1985 – kurze Prosastücke schrieb, die sich wie ein Mosaik aus aufgeschnappten Anekdoten und eigenen Erfahrungen zum «Buch der Umarmungen» (1989) fügen sollten. Monat für Monat schickte er mir ein paar dieser Texte – jedes Mal mit seinem Markenzeichen, einem Schweinchen, geschmückt –, die ich für das «Wiener Tagebuch» übersetzte. Dass die Monatsschrift nur ein bescheidenes Honorar zahlen konnte, störte ihn nicht. Es gab offenbar kein anderes deutschsprachiges Blatt, das sich damals für Galeanos literarische Arbeit interessierte. Der Lateinamerikataumel hatte nachgelassen, die verhärtete Linke war blind und taub gegenüber poetischen Miniaturen, und für die bürgerlichen Zeitungen blieb das, was er schrieb, politisch nicht tragbar. Einmal kam er zu einer Lesung nach Wien, einmal trafen wir uns in seinem Stammlokal in Montevideos Altstadt, dem Café Brasilero.

Die zarte Freundschaft zerriss an einer Veranstaltung der WOZ Anfang Februar 1992 in der Roten Fabrik in Zürich, wo Eduardo Galeano mit dem kubanischen Schriftsteller Jesús Díaz über die Auswirkungen der «Schönen Neuen Weltordnung» auf Lateinamerika diskutierte. Über Kuba gerieten sie in Streit – Díaz kritisierte die repressiven Massnahmen der Staatsführung, Galeano erneuerte sein Bekenntnis zur kubanischen Revolution und war noch mehr als durch Díaz’ Äusserungen durch deren Vehemenz schwer beleidigt. Sauer auch auf mich, weil ich als Moderator keinen Anlass gesehen hatte, die Debatte zu entschärfen. Jahre später trafen wir uns noch einmal, in Uruguay bei einem Kolloquium über Erinnern und Schreiben, da begrüsste er mich reserviert, mit ausgestrecktem Arm, wie um mich auf Distanz zu halten, aber ich zog ihn an mein Herz.

Warnung und Vermächtnis

Das Besondere an ihm war trotzdem sein Sinn für Freundschaft und seine Liebe zu Montevideo, wo er geboren wurde, von wo er vertrieben wurde, wohin er zurückgekehrt ist: in diese graue Stadt am Río de la Plata, die – in seinen Worten – im Winter nach Rauch riecht und im Sommer nach frischem Brot. In der «Chronik der Stadt Montevideo» beschreibt er die Begegnung zweier Freunde, die sich lange nicht gesehen haben und ihr zufälliges Zusammentreffen feiern, redend und trinkend in einer Kneipe, dann in der nächsten, bis auch die letzte zusperrt. Aber immer noch ist in ihnen der Drang, einander zu erzählen, zuzuhören, beisammenzubleiben, sodass sie sich gegenseitig nach Hause begleiten, die ganze Nacht hindurch, «wie von einem unsichtbaren Pendel hin- und hergeschwenkt, einander zugetan, ohne es zu sagen, und in fester Umarmung, ohne sich zu berühren».

Vor zehn Jahren verfasste Galeano einen «Brief an Frau Zukunft», der Warnung und Vermächtnis zugleich ist. «Uns kommt die Welt abhanden. Die Gewalttätigen treten sie wie einen Ball. Die Kriegsherren springen mit ihr um, als wäre sie eine Handgranate. Die Gefrässigen pressen sie aus wie eine Zitrone. Bei diesem Tempo, fürchte ich, wird die Welt eher früher als später nur noch ein Stein sein, der sich im All dreht, ohne Erde, ohne Wasser, ohne Luft und ohne Seele. Darum geht es, Frau Zukunft. Ich bitte Sie, wir bitten Sie, lassen Sie sich nicht verjagen. Um da sein, um überhaupt sein zu können, brauchen wir Sie, damit Sie weiterhin da sind, überhaupt sind. Damit Sie uns helfen, Ihr Haus zu verteidigen, das nichts anderes ist als das Haus der Zeit.»