Taiwan: «Freund Polizist, ich muss mal»

Nr. 17 –

Im jahrzehntelang autokratisch regierten Taiwan regt sich Widerspruch. Besonders junge Leute engagieren sich. Ein Besuch bei den AktivistInnen, die die ehemalige Leprastation von Taipeh retten wollen – und damit eine ganze Generation von StudentInnen inspirieren.

  • Korridor zu den Behandlungstrakten des ehemaligen Leprakrankenlagers Le Sheng in Taipeh. Foto: Wolf Kantelhardt
  • Demonstration gegen den Abriss von Le Sheng. Im Rollstuhl: PDF-Leitungsmitglied Zhou Ziwen. Auf Zhous Schoss: Drehbuchschreiber A-Zhong. Foto: Ping Liehao
  • Le-Sheng-Aktivist A-Tian: «Ich glaube nicht ans Recht. Das ist doch nur von Menschen gemacht.» Foto: Ping Liehao
  • Wu Wanrong mit einem Schriftzeichen für das traditionelle Frühlingsfest. Foto: Ping Liehao
  • Das Yu-Weng-She-Gebäude («Heim des alten Fischers») stammt aus der japanischen Besatzungszeit und ist eines der wenigen Häuser von Le Sheng, die aus Ziegelsteinen bestehen. Foto: Ping Liehao
  • Das für die U-Bahn-Wartungsstelle ausgebaggerte Tal. Es hiess, ein Betrieb der Linie sei ohne das Werk nicht möglich. Doch die U-Bahn fährt schon lange, und das Werk ist immer noch nicht fertig. Foto: Ping Liehao
  • Mit solchen Wellblechschutzdächern über den alten Le-Sheng-Häusern tut die Stadtverwaltung gerade so viel, dass man ihr nicht vorwerfen kann, nichts zu tun. Foto: Wolf Kantelhardt

«Taiwans Polizei ist sehr brutal», sagt der 79-jährige Chen Zaitian – der sich A-Tian nennt. «Deswegen sind die Polizisten alle sehr einsam. Niemand will ihr Freund sein.» Das mag vielleicht etwas verschroben klingen. Aber jemandem, der im Alter von gerade einmal sechzehn Jahren von der Polizei zu Hause abgeholt und in Taiwans zentrales Leprakrankenlager Le Sheng («Fröhlich leben») in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, gebracht wurde, dem kann ein bisschen Verschrobenheit wohl nachgesehen werden.

«Le Sheng wurde 1930 von der japanischen Kolonialmacht gegründet», erzählt Wu Wanrong. Die junge Frau promoviert gerade in Psychologie und ist seit Jahren Koordinatorin der Widerstandsbewegung gegen den Abriss des ehemaligen Lagers und jetzigen Sanatoriums. Dieser Widerstand, so bedeutungslos er auch scheinen mag, hat bei einer ganzen Generation von StudentInnen das Interesse an der Politik geweckt: Mit den vielen Protesten verleihen sie ihrer Forderung nach Mitbestimmung Ausdruck – und so beteiligten sich in den letzten Jahren viele an den Demonstrationen, die nie in Le Sheng gewesen sind.

«Japan», so fährt Wu fort, «war damals das am stärksten entwickelte Land in Asien. Raus aus Asien, rein nach Europa, das hatte sich der Kaiser zum Ziel gesetzt. In Europa gab es damals kaum Leprafälle – also beschloss die japanische Regierung, die als Zeichen von Rückständigkeit empfundene Krankheit ebenfalls auszurotten.» Und so seien in Japan und in den besetzten Gebieten (der Mandschurei, Korea, und Taiwan) insgesamt 21 Lager gebaut worden – obwohl Lepra gar nicht so ansteckend ist und eine strenge Isolation der Kranken nicht notwendig gewesen wäre. Andererseits, sagt Wu, «haben es die anderen Kolonialmächte auch so gemacht – die Briten in Malaysia, die Amerikaner auf den Philippinen».

Der Anlage von Le Sheng ist vieles anzusehen. Zum Beispiel, dass die japanische Kolonialmacht Taiwan nicht so schnell in die Unabhängigkeit zu entlassen gedachte. «Damals lag Le Sheng noch ausserhalb von Taipeh», erläutert Wu. «Es war aber trotzdem gut zu erreichen. Von der Strasse unten führten zwei Wege hierher – einer für die Gesunden, einer für die Kranken.» Dazwischen wurden Bäume gepflanzt, sodass man die am Berghang liegende Anlage von der Strasse aus nicht sehen konnte. «Hier am Hang war es sonnig und windig – das wurde als vorteilhaft für die Behandlung angesehen», erläutert Wu. «In den Zwischenräumen wurde Platz für Anbauten gelassen, falls sich Behandlungsmöglichkeiten oder die Medizintechnik weiterentwickeln sollten.» Chaulmoograbäume, von denen man früher dachte, dass ihr Öl gegen die ständigen Hautinfektionen der Leprakranken helfe, spendeten Schatten. «Hier, das sind die ältesten Häuser», sagt Wu und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf ein paar Gebäude: Viele hohe Fenster und Rundbögen sollten ihnen ein europäisches Aussehen geben; die Räume wurden mit japanischen Schiebetüren unterteilt. «Erst später», sagt Wu, «merkte man, dass sich die Chinesen in solchen Häusern nicht wohlfühlen, und hat Hofhäuser im chinesischen Stil gebaut.»

Dass sie nie wieder aus Le Sheng wegkämen, wurde den Kranken damals schnell klargemacht – mit dem Spruch, dass die Anlage nur durch den Schornstein wieder verlassen werden könne. Oder durch die Tafel, die am von der japanischen Kaiserin gespendeten Desinfektionshaus angebracht wurde und die die PatientInnen aufforderte, das Lager als ihr Heim anzusehen. Nicht wenige erhängten sich lieber. Im Korridorbereich des Haupteingangs, möglichst weit unten. So nahe, wie sie der Freiheit nur kommen konnten.

Drohungen und Übertreibungen

Am jetzt verwahrlosten Zustand des Sanatoriums Le Sheng ist gut zu sehen, wie Taiwans Regierung mit gesellschaftlichen Randgruppen umgeht. 2001 gab sie ihre Pläne zum Bau eines Wartungswerks für die Züge der U-Bahn-Linie 4 bekannt: Es sollte genau dort errichtet werden, wo über 400 alte, ehemals leprakranke Menschen lebten. Ein Antrag der Sanatoriumsleitung, die historische Anlage unter Denkmalschutz zu stellen, lehnte das Kulturamt mit dem Hinweis auf die «nationale Bedeutung» des U-Bahn-Baus ab. Und so entstand 2005 der Le-Sheng-Erhaltungsverein. Er konnte erreichen, dass sich ein Uno-Gremium in einem Schreiben an die Regierung von Taipeh besorgt über die geplante Zwangsräumung äusserte.

Daraufhin nahm die Baubehörde Le Sheng für ein halbes Jahr unter Denkmalschutz – untersuchte aber weder die Bausubstanz noch die Folgen, die ein Umzug für die langjährigen BewohnerInnen haben würde. Ein Antrag zur Aufnahme Le Shengs in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes war dem Selbsthilfeverein nicht möglich: Seit die Uno 1971 beschloss, die Volksrepublik als alleinige Vertreterin Chinas zu betrachten (vgl. «Fast immer autokratisch regiert» im Anschluss an diesen Text), ist Taiwan kein Mitglied mehr.

2007 klebten schliesslich Polizisten einen Räumungsbefehl an den Eingang von Le Sheng. Frist: dreissig Tage. Daraufhin kam es im Stadtzentrum von Taipeh zu Demonstrationen, die jedoch wenig bewirkten. Denn die Betreibergesellschaft drohte, die U-Bahn-Planung zu stoppen, sollte Le Sheng nicht abgerissen werden. Das überzeugte vor allem die HauseigentümerInnen in der Umgebung, die sich vom U-Bahn-Bau eine Wertsteigerung ihrer Immobilie erhofften. Die Behauptung der Betreibergesellschaft wurde allerdings 2012 bei der Aufnahme des U-Bahn-Betriebs bis zur Haltestelle Fu-Jen-Universität, zwei Stationen vor Hui Long, widerlegt: Es wäre also auch ohne den Abriss von fast zwei Dritteln der Gebäude gegangen. Die verbliebenen Häuser sind nun wegen der Abhänge hochgradig einsturzgefährdet und werden von aussen mit Eisenträgern gestützt. Manche Dächer überspannt eine Schutzkonstruktion aus Wellblech, andere wurden in ein Art Wachstuch eingewickelt. Es sieht so aus, als habe sich die Stadtverwaltung mit dem Schutz schon ein bisschen Mühe gegeben, aber nicht so viel.

Wu dagegen gibt sich viel Mühe und lässt sich auch von einem möglichen Erdrutsch nicht abhalten. Fast jedes Wochenende verbringt sie in Le Sheng. Heute hat sie eine Aktion zum chinesischen Frühlingsfest organisiert: Wer kommt und hilft, die roten Papierstreifen mit guten Wünschen zum neuen Jahr links und rechts neben die Eingänge der alten Häuser zu kleben, der darf später auch welche für sich selbst mir nach Hause nehmen. Gepinselt wurden die Papierstreifen von You Junming, einem bekannten Kalligrafen, der selbst gekommen ist, um seine Schriftzeichen zu erklären. Die richtigen zu finden, war nicht so einfach: Es kommt auf den Ton an, und das Schriftzeichen für das aktuelle chinesische Tierkreiszeichen «Schaf» musste irgendwo hinein (You behalf sich da mit einer Stelle eines Buchs über Konfuzius). Seine klassischen Zitate sind so kompliziert, dass kaum jemand von den vierzig Anwesenden, darunter viele Teenager, seinen gelehrten Ausführungen folgen kann.

Beschuldigungen im Konjunktiv

Vierzig TeilnehmerInnen – etwas abgeflaut ist der Widerstand schon. Das war vor ein paar Jahren noch anders, vor allem 2007, in der heissesten Phase. «Als wir damals in der Innenstadt ankamen, standen dort schon Massen von Polizisten und hielten ein Schild hoch, auf dem ‹Administrativer Gesetzesverstoss› stand», erinnert sich A-Tian. Da habe er einen Polizisten gefragt: «Freund Polizist, wir sind doch gerade erst angekommen. Wie kann es denn sein, dass wir schon jetzt gegen ein Gesetz verstossen haben?» Die Polizisten hätten darauf das Schild heruntergenommen. Jüngere DemonstrantInnen hatten sich damals in einem Kreis schützend vor die ehemaligen Leprakranken gestellt, es kam zu Schlägen, die Polizei schleppte Jugendliche weg, und ein Polizist schob A-Tian in seinem Rollstuhl kilometerweit zu einer Polizeiwache. Dort wurde er dann draussen stehen gelassen, unter Bewachung.

«Wir hatten uns am Mikrofon abgewechselt, denn wer es zweimal in die Hand nimmt, macht sich strafbar», erzählt A-Tian. «Mir drohten sie mit einer Anzeige. Ich sollte als Anführer angeklagt werden.» Als Anführer? Was ist denn das für eine Strafrechtskategorie? «Doch, in Taiwan gibt es das», wirft Wu ein. «‹Freund Polizist, ich muss mal›, habe ich dann gesagt», fährt A-Tian mit seiner Erzählung fort. Nun ist es nicht nur in Taiwan nicht jedes Polizisten Sache, einem ehemaligen Leprakranken ohne Beine und Finger beim Urinieren zu helfen. «‹Wenn Sie mir nicht helfen, werde ich genau hier vor die Polizeiwache pissen›, sagte ich», erinnert sich A-Tian.

Er und Wu freuen sich noch heute darüber. «Taipehs Polizisten kennen mich alle», erzählt nun Wu. «Mich wollten sie auch schon einmal anklagen, weil ich zu dicht an Präsident Ma Ying-jeou herangekommen sei; ich hätte ihn verletzen können, wenn ich eine Waffe gehabt hätte …» Wenn sie eine Waffe gehabt hätte! Aber was wollte sie denn überhaupt so dicht beim Präsidenten? «Ach, einen Slogan rufen, so etwas in der Art», antwortet Wu. Aber es klingt so vage, dass man sich durchaus den Tritt vorstellen kann, den sie dem Präsidenten gern verpasst hätte, wenn sie nur näher an ihn herangekommen wäre.

Klare Preise, festgelegte Verweildauer

«Wir können den Präsidenten wählen. Ist das nicht Demokratie genug?», fragt Zhu Yingqi und verzieht das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Sie hat wie Wu an der Fu-Jen-Universität Psychologie studiert und hält ebenfalls nicht viel vom Präsidenten. Taiwan, die Republik China, wurde bis ins Jahr 2000 von der Kuomintang (KMT) beherrscht, der Partei des früheren chinesischen Machthabers Chiang Kai-shek, der 1949 – nach dem verlorenen Bürgerkrieg gegen die KommunistInnen – samt seinem Tross vom Festland auf die Insel Taiwan geflohen war und dort eine Diktaktur errichtete. Nach Aufhebung des Kriegsrechts 1987 setzte die Bevölkerung grosse Hoffnungen auf die von TaiwanerInnen dominierte Fortschrittspartei. Deren erster Präsident, Chen Shuibian, stammte aus einfachen Verhältnissen – aber nach seiner Wahl stellte sich heraus, dass auch die Fortschrittspartei, wie die KMT, eng mit dem Unternehmertum verbandelt war. Beide Parteien unterscheiden sich nur in der Herkunft der Grosseltern und Eltern ihrer Mitglieder und, daraus resultierend, in der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit. Die Interessen der unteren Bevölkerungsschichten haben da keinen Platz.

Also gibt es in Taiwan keine linke Partei? «Doch! Das sind wir», antwortet Zhu. Mit «wir» meint sie die AktivistInnen des Action Research Workshop. Ins Leben gerufen wurde er von der Psychologie-Professorin Xia Linqing, die aus den USA zurückgekehrt war. Erstes Ziel war, den durch die Jahre des Kriegsrechts fürchterlich zersplitterten und zerstrittenen Gewerkschaften zu neuer Einheit zu verhelfen; nur so konnten diese die Einführung einer Arbeitslosenversicherung durchsetzen. Inzwischen hat die ArbeiterInnenbewegung, vor allem bedingt durch die Abwanderung der Industrie in die Volksrepublik und nach Vietnam, allerdings wieder an Schwung verloren. Heute beginnen neun von zehn SchulabsolventInnen ein Universitätsstudium.

Andere Mitglieder des Action Research Workshop setzten sich für andere gesellschaftliche Randgruppen wie die letzten lizenzierten Sexarbeiterinnen ein. Nach der Ankunft der KMT hatte es in Taiwan ein gewaltige Nachfrage nach Sexarbeit gegeben. Die damalige Regierung liess deswegen – zur Steigerung des Angebots – Lizenzen ausstellen. Der Preis war festgelegt, ebenso die Verweildauer, und alle Bordelle hatten die Telefonnummern der nächsten Polizeistation. Später stellte die KMT-Regierung keine neuen Lizenzen mehr aus. Die älter und immer weniger werdenden lizenzierten Sexarbeiterinnen konnten als Einzige legal arbeiten und hatten deswegen immer genug Nachfrage und einen stabiles Einkommen. Doch dann liess Chen Shuibian 1997 – damals noch Taipehs Bürgermeister – den verbliebenen 120 Frauen die Lizenz entziehen.

«Über 300 Mal haben wir demonstriert und waren immer da, wenn Chen irgendwo einen öffentlichen Auftritt hatte», erinnert sich Wang Fangping, eine ehemalige Sexarbeiterin. Das sei alles andere als populär gewesen; Chen galt seinerzeit noch als Superstar, weil er sich gegen Prostitution, Korruption und die Mafia einzusetzen versprach. «Wir sind oft als schamlose Handlanger der KMT beschimpft worden», erzählt Wang. Eine zweijährige Verlängerung der Lizenzen war alles, was die Aktionen erreichten; Illegalität und Perspektivlosigkeit konnten sie nicht verhindern, manche Frauen brachten sich um. Heute verfügt die kleine Organisation Ririchun über ein kleines Büro gegenüber einem ehemaligen Bordell, wo sich Sexarbeiterinnen beraten lassen und sich BesucherInnen informieren können.

Klein, aber basisdemokratisch

Heute bieten Mitglieder des Action Research Workshop unter anderem Unterstützung für die meist südostasiatischen Frauen an, die Taiwaner geheiratet haben. Sie betreiben eine Anlaufstelle für ArbeitsmigrantInnen und Sans-Papiers, sie helfen den zumindest wirtschaftlich marginalisierten Bauern und Bäuerinnen bei Kooperativengründungen und der Vermarktung ihrer Erzeugnisse – und sie haben schliesslich, nach langen internen Diskussionen, eine politische Partei gegründet: die People’s Democratic Front, kurz PDF, die jetzt an Wahlen teilnimmt. «Wir sind ein bisschen wie die deutsche Piratenpartei», glaubt der Gewerkschafter He Yantang. «Wir wollen nicht, dass einfach nur jemand gewählt wird, der dann für dich die Entscheidungen trifft.» Das liefe doch wieder auf eine Machtkonzentration hinaus, die von der Bevölkerung nicht kontrolliert werden könne.

Die PDF ist daher basisdemokratisch organisiert und hat weder eineN VorsitzendeN noch jemanden, der für die Pressearbeit zuständig ist. «Alle sollen für sich selbst sprechen», sagt Zhu. Einfach ist das nicht. Auch deswegen nicht, weil die beiden grossen Parteien eine Wahlrechtsreform durchdrückten, die die kleinen Parteien benachteiligt. Aber immerhin: Vor drei Monaten gewann erstmals eine PDF-Kandidatin eine Wahl – interessanterweise in unmittelbarer Nachbarschaft der alten Festung Chiang Kai-sheks und der Zentrale der Staatssicherheit. Dort ist sie jetzt amtierende Kreisvorsteherin.

Wu Wanrong, die Widerständlerin, sympathisiert zwar mit der Partei, will aber lieber keine Parteiarbeit machen: «Ich helfe ein bisschen, bin aber vorsichtig», sagt sie. «Sonst wollen die gleich, dass ich mich als Kandidatin aufstellen lasse.» Grosse Chancen haben die PDF-KandidatInnen bisher nicht. Aber immerhin ist durch die schiere Existenz der PDF Taiwan pluralistischer und interessanter geworden – und hat ein bisschen mehr vorzuweisen als nur sehr hohe Quadratmeterpreise.

Der Tsunami als Recht

Wu wird auch nächstes Wochenende nach Le Sheng gehen. Weil dies der erste Todestag eines ehemaligen Kranken ist, der sich genauso engagiert für den Erhalt der Anlage eingesetzt hat wie A-Tian. Sie wird Weihrauch für ihn verbrennen und – weil er das so gerne mochte – jede Menge Süssigkeiten mitbringen. «Ich erzähle ihm dann, wie es jetzt um Le Sheng steht», sagt Wu. Nur noch 21 ehemalige Kranke wohnen hier. Ein Abriss der verbliebenen Häuser ist zwar nicht mehr geplant. Aber die Aushubarbeiten für die unterirdische U-Bahn-Wartungsanlage gehen weiter. Die Bagger heben unter einem Netz von Stahlträgern, das ein weiteres Abrutschen des Berghangs verhindern soll, weiter Erde aus. Es wirkt so, als hoffe die Regierung, dass genauso wie die immer älter werdenden ehemaligen Kranken auch die Häuser irgendwann still und leise von selbst verschwunden sein werden. Eine ähnliche Strategie verfolgen die Behörden jedenfalls oben auf dem Yangming-Berg, wo alte Holzhäuser der US-amerikanischen Generäle aus den fünfziger Jahren stehen.

Die ehemaligen Leprakranken engagieren sich ebenfalls. Mao Wanzhi zum Beispiel, einer der jüngeren, hat in einem der ältesten Häuser aus alten Betten und Tischen ein fast zehn Quadratmeter grosses Modell des abgerissenen Eingangsbereichs gebaut. Das zeigt er den BesucherInnen stolz – wenn er mit seinen gefühllosen Fingerstümpfen das Vorhängeschloss an der Tür aufbekommt.

Auf dem Rückweg geht Wu noch bei einigen ehemaligen Kranken vorbei, die, weil pflegebedürftig, in das neu gebaute siebenstöckige Krankenhaus auf der anderen Seite der U-Bahn-Baustelle umgezogen sind. «Riechst du das?», fragt sie. Es ist wirklich ein grosser Unterschied zum Osmanthus-Duft und dem Vogelgezwitscher auf der anderen Seite der Baustelle. Wu lässt den ehemaligen Kranken viel Zeit, zwischen verschiedenen Sprüchen und Motiven auf den Papierstreifen auszuwählen. Danach ist kein Exemplar mehr da mit dem Schriftzug, den sie selbst gerne für sich gehabt hätte.

Wu beeilt sich. Sie muss noch die Fotos machen, mit denen ihre Gruppe den Baufortschritt dokumentiert. Es dämmert schon, als sie sich – auf einem kleinen Holzschemel stehend – über das Brückengeländer beugt. Später lädt A-Tian sie noch zu sich ein. Er wohnt in keinem der alten einsturzgefährdeten Häuser, auch nicht im muffigen Krankenhaus, sondern seit elf Jahren in einer Behelfsunterkunft. «Ich will nicht in einem Hochhaus leben», sagt er. Hier sei es zwar im Sommer heiss und im Winter kalt, und die Wände seien hellhörig, aber es ist ebenerdig; A-Tian und seine NachbarInnen nehmen Rücksicht aufeinander. Natürlich, so gut wie damals, als sie als junge Leprakranke die Alten pflegten, sei das Pflegepersonal heute nicht mehr; ohne Neuinfektionen interessieren sich nur wenige Pflegekräfte für die Bedürfnisse der ehemaligen Leprakranken.

Merkwürdigerweise ist das einzige Wort, das A-Tian nicht richtig aussprechen kann, das Wort für «Recht». Er sagt «huasi», dabei heisst es auf Hochchinesisch «falü». «Ich glaube nicht ans Recht. Das ist doch nur von Menschen gemacht», sagt er. Und dann fügt er wieder etwas zunächst arg verschroben Klingendes hinzu: «Damals, der Tsunami in Südostasien, da sind alle ertrunken: Japaner, Chinesen, Amerikaner, Franzosen – alle gleich, kein Unterschied. Das ist für mich Recht.»

Kleine Geschichte des kleinen China : Fast immer autokratisch regiert

Fünfzig Jahre lang von Japan besetzt, weitere fünfzig Jahre von der Kuomintang (KMT) dominiert – die Bevölkerung Taiwans konnte lange nicht über ihre eigenen Geschicke bestimmen. 1895, am Ende des Japanisch-Chinesischen Kriegs, musste China die Insel an Japan abtreten. Die japanische Kolonialherrschaft endete mit dem Zweiten Weltkrieg 1945; kurz darauf wurde Chiang Kai-shek, der den chinesischen Bürgerkrieg verloren hatte, neuer Herrscher. Er flüchtete mit seinen Truppen vom Festland auf die Insel.

Schnell formierte sich Widerstand. So kam es bereits im Februar 1947 zu einem Volksaufstand gegen die KMT-Regierung. Dessen militärische Niederschlagung kostete über 10 000 Menschen das Leben. Chiang regierte mit Kriegsrecht und dank der Unterstützung der USA. Ohne deren Hilfe hätte er kaum überlebt: Die mit ihm vom chinesischen Festland Geflohenen machten nur etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus, dominierten aber die Politik. Bis zur Aufhebung des Kriegsrechts 1987 fielen dem «weissen Terror» der KMT über 100 000 TaiwanerInnen zum Opfer.

Nach Chiangs Tod 1975 übernahm dessen Sohn Chiang Ching-kuo die Präsidentschaft. Die Wirtschaft boomte, Taiwan wurde zu einem der vier Tigerstaaten. Aber erst nach dem Ende des Ausnahmezustands 1987 konnten sich freie Gewerkschaften bilden. 1996 kam es zu den ersten freien Präsidentschaftswahlen; vier Jahre später wurde der aus einer Kleinbauernfamilie stammende Chen Shuibian zum Präsidenten gewählt. Doch die Freude über den Hoffnungsträger, dessen Fortschrittspartei die alteingesessenen TaiwanerInnen repräsentierte, währte nicht lange: Derzeit sitzt Chen eine siebzehnjährige Haftstrafe wegen Geldwäsche und Korruption ab.

Laut den Kriterien des Human Development Index der Uno, dem Index für menschliche Entwicklung, lag Taiwan 2013 zwischen Frankreich und Österreich auf Platz 21. Allerdings hatte das Nationale Statistikbüro den Wert von 0,882 (er ergibt sich aus Lebenserwartung, Bildung und Durchschnittseinkommen) selbst berechnet; die Uno übernahm das nur für Mitgliedstaaten. Die Volksrepublik China rangierte – zwischen Tunesien und Algerien – auf Platz 91.

Zu den letzten grossen Protesten kam es im März 2014: Damals besetzten StudentInnen im Rahmen der «Sonnenblumen-Bewegung» zwanzig Tage lang den Legislativen Hof, Taiwans Parlament. Auslöser der Proteste, an denen sich eine halbe Million TaiwanerInnen aktiv beteiligte, waren Geheimverhandlungen der seit 2008 wieder amtierenden KMT-Regierung über ein Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China.

Wolf Kantelhardt