Film «Cherry Pie»: Wie Sternschnuppen in Zeitlupe

Nr. 22 –

Mit 33 Jahren hat Lorenz Merz schon dreimal den Schweizer Filmpreis gewonnen. Jetzt kommt sein Regiedebüt «Cherry Pie» ins Kino – ein Roadmovie, das mit minimalen Mitteln ein Maximum an filmischer Atmosphäre erzeugt.

Auf der Suche nach dem perfekten Ort zum Verschwinden: Zoé (Lolita Chammah) und eine schwangere Frau (Johanna Allitt). Foto: 8Horses

Allein im Badezimmer, endlich ein Moment der Lust. Ihre Finger schwärmen aus, und für einmal ist Zoé ganz bei sich, in diesem Hotel in der Fremde. Aber da ist plötzlich noch eine Hand, die ihr grob ins Gesicht greift: eine Männerhand, wie eine leibhaftige Erinnerung an das Leben, das sie hinter sich gelassen hat.

Die dritte Hand, die hier ins Bild langt, gehört in Wirklichkeit dem Regisseur hinter der Kamera. Und nein, wir sind nicht in einem Porno, sondern in «Cherry Pie», dem ersten langen Spielfilm des Zürchers Lorenz Merz. Gedreht hat er ihn mit Lolita Chammah in der Hauptrolle, und falls man sich jetzt fragt, was das für Eltern sind, die ihre Tochter nach Vladimir Nabokovs Nymphchen taufen: Ihre Mutter ist Isabelle Huppert, also höchster französischer Kinoadel. Merz und Lolita Chammah waren ein Paar, als sie «Cherry Pie» drehten, und geblieben ist ihnen, nebst dem Film, ein kleiner Sohn, um den sie sich gemeinsam kümmern. Merz pendelt deshalb weiter zwischen Zürich und Paris, und von Isabelle Huppert berichtet er, dass die berühmte Grossmutter natürlich «deeply in love» mit ihrem ersten Enkel sei. Er sagt das auf Englisch, in unserer Behelfssprache für grosse Gefühle.

Gefragtes Auge

Doch nun genug mit People, kommen wir zur Kunst. Also zum Mut, Dinge zu wagen, von denen man zu Beginn noch nicht recht weiss, wo sie hinführen. So, sagt Lorenz Merz beim Kaffee auf dem Idaplatz in Zürich, habe das nämlich angefangen mit diesem «Cherry Pie». Als Experiment mit offenem Ausgang, als improvisierter Feldversuch, um die Zeit bis zum eigentlichen Debüt zu überbrücken – und sich vom Zwang zum unbedingten Gelingen zu befreien. Mit seinem Diplomfilm «Un día y nada» (2008) hatte Merz den Schweizer Filmpreis für den besten Kurzfilm gewonnen, danach setzte er sich an seinen ersten langen Spielfilm. «Aber nach zwei Jahren mit gekrümmtem Rücken am Schreibtisch hatte ich den Drang, etwas Impulsives zu machen, näher an der Unmittelbarkeit der Malerei.» Er wollte drehen, sich ins wirkliche Leben schmeissen. «Nur eine Schauspielerin und ich mit der Kamera: Das sollte reichen für Kino.»

Und dieses wirkliche Leben heisst nun eben: Zoé. Humpelnd läuft sie weg, nichts als eine Plastiktüte in der Hand. So lernen wir sie kennen in der ersten Einstellung, irgendwo in einem tristen Aussenquartier, Sumpfland zwischen Plattenbauten. Sie nimmt Reissaus von ihrem Freund, den wir nie zu sehen bekommen. Wir wissen nichts von Zoé, wir erfahren auch nicht viel mehr. Nur, dass sie verschwinden will und den perfekten Ort dafür sucht. Eine junge Frau auf dem Pannenstreifen, menschliches Treibgut in einem gesichtslosen Europa. Sie schlägt sich in die Büsche und reist als blinde Passagierin im Kofferraum einer seltsamen Diva, die so verloren wirkt wie sie selbst. Sie landet auf einer gespenstischen Autofähre: nirgends Menschen auf dem Schiff, nur ein hechelnder Hund in einem der Autos.

Es ist nur das Gerippe eines Plots, mit dem Merz hier operiert, in monochromen Bildern, die den Puls unserer Zeit atmen. Und in diese gräuliche Gegenwart, die Zoé durchquert, schlägt er immer wieder Schneisen für die bodenlose Pracht des Profanen. Einmal spiegeln sich die Lichter einer Autobahn im Nachthimmel, und es sieht aus wie ein Schwall von Sternschnuppen in Zeitlupe. Später dann verdichtet Merz in einer einzigen, leeren Einstellung die Verlorenheit seiner Zoé: Aus dem Bauch der Fähre blickt die Kamera zum Steg hinaus, der sich hebt und senkt – das Festland draussen als schwankender Boden.

Kein Wunder, dass dieses Auge so gefragt ist. Rolando Colla etwa hat nach «Summer Games» (2011) auch seinen neusten Film wieder mit Merz an der Kamera gedreht. Und für seine Arbeit an Simon Jaquemets «Chrieg» hat Merz im letzten März seinen dritten Schweizer Filmpreis gewonnen, zum zweiten Mal nach «Summer Games» für die beste Kamera. Das führt dazu, dass der Kameramann Lorenz Merz dem Regisseur Lorenz Merz manchmal ein bisschen im Weg steht. Weil sich mit jedem Job als Kameramann seine eigenen Geschichten verzögern. Auch deshalb kommt «Cherry Pie» erst jetzt ins Kino: vier Jahre nach den Dreharbeiten, fast zwei Jahre nach der Premiere in Locarno.

Ja, man sieht diesem Roadmovie streckenweise an, dass es als Kurzfilm gedacht war. Und manchmal, so scheint es, ist Merz auch einfach sehr verliebt in seine Bilder. Das will er natürlich nicht gelten lassen, schliesslich habe er mehr als die Hälfte der hübschen Bilder weggelassen: «Richtig brutal runtergemeisselt.» Und was die Längen angeht: «Das sagen die Leute immer erst dann, wenn sie wissen, dass es als Kurzfilm geplant war. Die Überlänge ist wichtig für das Gefühl, das ich evozieren will.»

Jedenfalls: Wer sich auf «Cherry Pie» einlässt, findet hier Qualitäten im Überfluss, wie man sie gerade im Schweizer Kino so oft vermisst. Zum Beispiel, wie man praktisch ohne Dialoge auskommt, weil alles, was erzählt werden muss, in den Bildern steckt. Oder wie man mit einem Minimum an Mitteln ein Maximum an filmischer Atmosphäre erzeugt, die so sehr vom Visuellen lebt wie von der Musik (Marcel Vaid) und vom Sounddesign (Maurizius Staerkle Drux). Und überhaupt, wie man das Wagnis sucht, ohne sich erst nach allen Seiten hin abzusichern und vorsorglich abzudichten, bis nichts mehr atmet.

Hinter die Erscheinung

«Kino ist ja oft das, was man nicht aussprechen kann», sagt Lorenz Merz. «Es ist ein bisschen, wie wenn du verliebt bist: Es macht etwas mit dir, aber es gibt keine Worte dafür.» Von extremen Empfindungen wird auch sein nächster Film handeln, der sich um einen jugendlichen Vater dreht. Merz kennt das aus eigener Erfahrung, er war selber noch ein Teenager, als er erstmals Vater wurde. In seinem Film, sagt er, werde es darum gehen, einen Blick hinter die sichtbare Erscheinung der Dinge zu erhaschen. Und als wärs ihm peinlich, schiebt Merz gleich nach: «Das klingt jetzt vielleicht esoterisch.»

Er sagt diesen Satz mehrmals während unseres Gesprächs. Aber immer klingt er dabei eher bodenständig als erleuchtet. Vielleicht liegt hier das Geheimnis seines filmischen Auges: in dieser sehr geerdeten Spiritualität, mit der Merz auf die Welt blickt. Er wollte ja erst Maler oder Fotograf werden. Aber schreiben wollte er auch und Theater und Musik machen. Und weil ihm jede Disziplin für sich allein unbefriedigend blieb, landete er beim Film, dem Medium, das alles vereint. Kino, die ganzheitliche Kunst: Klingt das jetzt esoterisch?

Die beste Filmschule übrigens hat ihm einst ein Deutschlehrer in den Schoss gelegt: die «Notizen zum Kinematographen» von Robert Bresson, dem grossen Transzendentalisten des französischen Kinos. Das Buch begleitet Lorenz Merz bis heute, und darum liegt es bei ihm daheim an einem Ort, wo er seinen Bresson immer griffbereit hat: auf dem WC.

Lorenz Merz, Regisseur und Kameramann.

«Cherry Pie» läuft ab 28. Mai 2015 in Zürich im Kino Riffraff und ab 29. Mai 2015 in Bern im Kino Kunstmuseum.

Cherry Pie. Regie: Lorenz Merz. Schweiz 2013