Nato-Manöver in Nordeuropa: Ein lautes Signal nach Moskau

Nr. 23 –

Über hundert Militärflugzeuge – darunter acht aus der Schweiz – und knapp 4000 SoldatInnen üben den Krieg im hohen europäischen Norden. Die Urbevölkerung der Sami hat niemand gefragt.

Seit dem 5. Mai herrscht wie jedes Jahr in der nordschwedischen Provinz Västerbotten ein Scooterverbot. Aus Rücksicht auf die Natur. Die Bevölkerung möchte dann den Krach dieser zwischen Herbst und Frühjahr weithin üblichen Transportmittel nicht mehr haben. Das Tierleben brauche in dieser Zeit Ruhe, sagt Anna Lejon von der Provinzverwaltung in Umea: «Die Rentiere beginnen mit dem Kalben. Sie sind extrem empfindlich auf Störungen, und ihre Gesundheit ist nach dem langen Winter angeschlagen.»

In diesem Frühjahr gibt es für die Tiere trotz Scooterverbot keine Ruhe. Seit dem 25. Mai und noch bis Ende dieser Woche findet im schwedischen, norwegischen und finnischen Lappland bis hin zum nördlichen Eismeer eines der weltweit grössten Militärmanöver statt: die Arctic Challenge Exercise (ACE). 115 Militärflugzeuge aus sechs Nato-Ländern – darunter Deutschland, Grossbritannien und die USA sowie allianzfreie Länder wie Schweden und Finnland – simulieren Luftkämpfe und sorgen über den dortigen Wäldern, Mooren und Ansiedlungen für teilweise infernalischen Lärm. Auch die Schweiz ist mit 8 F/A-18-Jets, 15 Piloten und 45 weiteren Angehörigen der Luftwaffe dabei. Offiziell soll eine Uno-Friedensmission geprobt werden. «Wir gewährleisten unsere Sicherheit zusammen mit anderen. Das bedeutet, dass wir zusammen trainieren müssen», erklärt Carl-Johan Edström von der schwedischen Luftwaffe.

Selbstverständliche Nato-Regie

Es ist nicht das erste Mal, dass Schweden grosse Teile seines Luftraums für Übungen «befreundeter» Luftwaffen zur Verfügung stellt. Es gibt in Europa nämlich nicht mehr viele vergleichbar dünn besiedelte Gebiete, über denen sich die Militärjets so weiträumig austoben können. Doch jetzt hat sich erstmals breiter Widerstand gegen solche Kriegsübungen formiert: gegen den Umfang des Manövers, gegen den Zeitpunkt und gegen die Selbstverständlichkeit, mit der sich Schweden und andere Nicht-Nato-Länder der Nato-Regie unterwerfen. Zwar hat Schweden formal «eingeladen», doch praktisch wird das Manöver vom Nato-Land Norwegen geleitet.

«Ist angesichts der gegenwärtigen politischen Lage eine solche Machtdemonstration wirklich das Klügste?», fragt beispielsweise die schwedische Theaterregisseurin Stina Oscarson: «Wir demonstrieren damit doch: Schaut her, wenn wir nur wollen, dann können wir uns die Arktis grapschen.» Zusammen mit dreissig anderen Kulturschaffenden, darunter der Schauspieler Rolf Lassgard und die RegisseurInnen Suzanne Osten und Jacob Hirdwall, veröffentlichte sie im Stockholmer «Dagens Nyheter» einen Aufruf, in dem einerseits Russlands Aufrüstung und Invasion der Ukraine als «inakzeptabel» gegeisselt werden, andererseits jedoch gefragt wird, ob eine wachsende Militarisierung der Arktis und Kriegsvorbereitungen, wie sie sich in den jetzigen Manövern manifestierten, die richtige Antwort sind.

Mit einem uneingeschränkten Ja antwortet darauf Allan Widman, verteidigungspolitischer Sprecher der Nato-freundlichsten schwedischen Partei, der liberalen Folkpartiet: «Wir müssen der Welt zeigen, dass wir bereit sind, mit anderen zusammenzuarbeiten.» Und dass weite Teile der Bevölkerung und hier speziell die in Nordschweden direkt betroffenen Menschen sich überfahren fühlen? Das sei natürlich problematisch, und man versuche, auf «zivile Interessen Rücksicht zu nehmen», meint Widman. Aber die «fundamentale sicherheitspolitische Bedeutung der Übungen für unser Land» sei einfach vorrangig.

«Kolonialpolitik»

Der Naturfotograf Tor Lundberg Tuorda versteht eine solche Argumentation als typischen Ausdruck von «Kolonialismus»: «Der Staat macht ja mit dem Grund und Boden, den man dem samischen Volk geraubt hat, sowieso schon lange, was er will. Nun nimmt man uns auch noch das Letzte, was übrig geblieben ist: den Luftraum über unseren Köpfen.» Auch Henrik Blind, grüner Kommunalpolitiker aus Jokkmokk, spricht von «Kolonialpolitik». Die Sami müssten nicht nur die Konsequenzen von militärischer Aufrüstung und Grossmachtspannungen tragen, sie würden ebenso wie die Lokalbevölkerung in Lappland gegen ihren Willen in ein machtpolitisches Spiel um die Vorherrschaft in der Arktis hineingezogen. Er erinnert daran, dass das Volk der Sami auch jenseits der russischen Grenze lebt. Nun bangt er um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen, die im vergangenen Vierteljahrhundert aufgebaut worden ist.

Die Kränkung der Rechte der samischen Urbevölkerung ist auch einer der Kritikpunkte, den der Internationale Frauenverband für Frieden und Freiheit am ACE vorbringt. Zudem würden hier Waffen getestet, die später in Kriegen und Konflikten Menschen töten sollten und in erster Linie zivile Opfer verursachen würden. Stockholm müsse sich fragen lassen, wie das eigentlich mit der von der rot-grünen Regierung ausgerufenen «feministischen Aussenpolitik» des Landes vereinbar sei (siehe WOZ Nr. 15/2015 ).

Ausserdem habe Schweden die Klimaveränderung als absolut grösste Gefahr für die weltweite Sicherheit definiert und lasse nun solche Übungen mit ihren massiven Belastungen für Umwelt und Natur und die unbestreitbaren negativen Einwirkungen auf das Klima zu.

Militärische Zeichen setzen

Dabei ist die Arctic Challenge Exercise nur eine Übung in einer Kette von Manövern, die in diesem Jahr in Nordeuropa stattfinden. Zeitgleich mit dem Ende von ACE startet mit Baltops das nächste Grossmanöver unter Nato-Regie. Dann werden bis zum 20. Juni in der südlichen Ostsee und an den Küsten Schwedens, Dänemarks und Polens unter anderem das Anlandsetzen von Truppen und die Verminung der für Russland wichtigen Ostseezugänge geübt. In den vergangenen Monaten waren im Baltikum und in Norwegen bereits drei andere Allianzmanöver veranstaltet worden, darunter eines zur Ortung von U-Booten. Der dänische General Knud Bartels betonte, diese Übungen sollten dazu beitragen, dass die Nato «die grösste Verstärkung unserer kollektiven Verteidigung seit dem Ende des Kalten Kriegs» organisieren könne.

Man wolle «sicherheitspolitische Signale» aussenden, erklärte auch der schwedische Generalmajor Karl Engelbrektson, und er hoffe, dass Russland diese verstehen werde. Welche Botschaft angekommen ist, liess Moskau umgehend wissen: Als Reaktion wurde von Moskau über Sibirien und dem Uralgebiet ein nicht angekündigtes umfassendes Luftmanöver gestartet: Rund 12 000 SoldatInnen und etwa 250 Kampfflugzeuge üben nun auch dort die Luftverteidigung.

Reinhard Wolff lebt seit über zwanzig Jahren in Schweden und ist Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Medien für Skandinavien und das Baltikum.