Stipendieninitiative: «Wenn du arbeitest, verlierst du doppelt»

Nr. 23 –

Die Zwillinge Ephraim und Manasseh Seidenberg haben neun Geschwister. Würde der Kanton sie nicht mit Stipendien unterstützen, wären sie jetzt nicht an der Uni.

Ephraim und Manasseh Seidenberg: «Ohne Stipendien würden wohl noch weniger junge Leute wie wir studieren.»

«Wir wollen kein gemütliches Leben, wir wollen keine Almosen, wir brauchen nur ein wenig Sicherheit, um zielstrebiger studieren zu können», sagen die Zwillingsbrüder Ephraim und Manasseh Seidenberg. Beide studieren in Zürich, Ephraim Allgemeine Sprachwissenschaften, Manasseh Medizin. Seit 24 Jahren sind die Brüder füreinander da – nicht ganz, scherzen sie, denn Ephraim sei fünfzehn Minuten älter als Manasseh.

Sorgen bereitet den Seidenbergs vor allem das Geld. Denn mit neun Geschwistern sind sie für ihren Unterhalt komplett von Stipendien abhängig, da ihre Eltern sie nicht unterstützen können.

«Wir sind dankbar für die Beträge, aber das heutige System funktioniert nicht für alle», sagt Ephraim. Sein Bruder erklärt, weshalb: «Würde ich nur ein paar Hundert Franken mehr erhalten pro Monat, könnte ich sorgenfreier studieren.» Ephraim nickt und fügt hinzu: «Das Studium ist heute ein Wettbewerb. Wenn du nebenher arbeitest, dann bist du der Idiot, der länger studiert und schlechtere Noten hat. Ein Professor hat mir einmal ins Gesicht gesagt, dass er nur am obersten Fünftel der Studierenden interessiert sei.»

Heute liegt die Verantwortung für die Stipendien bei den Kantonen, was zu erheblichen Unterschieden führt. So ist beispielsweise im Kanton Glarus der durchschnittliche Beitrag beinahe doppelt so hoch wie im Kanton Graubünden, und SchülerInnen aus dem Kanton Bern haben nur eine halb so grosse Chance auf Unterstützung wie jene aus dem Waadtland.

Zudem erhalten nur neun von hundert Studierenden, die dazu berechtigt wären, einen Ausbildungsbeitrag. Diese Mängel möchte die Stipendieninitiative ausmerzen, über die am 14. Juni abgestimmt wird. Die InitiantInnen fordern, dass für alle Studierenden die gleichen Kriterien gelten müssen und niemand mit weniger als 2000 Franken im Monat auskommen muss.

Keine Zeit zum Lernen

«Pro Monat stehen uns je 1300 Franken zur Verfügung. Das reicht, um Essen zu kaufen und die Miete zu zahlen. Für mehr nicht», sagt Manasseh. «Neue Kleider können wir uns davon nicht leisten. Zu Beginn des Studiums bin ich jeweils nicht zum Arzt gegangen, weil ich nicht wusste, wie ich die Rechnung zahlen sollte», erzählt Ephraim weiter. Nun aber hätten sie sich mit ihrer Situation arrangiert. So würden sie etwa im Coop nach Aktionen Ausschau halten oder im Caritas-Laden einkaufen. «Unser System funktioniert jedoch nur, solange kein Unglück geschieht, denn Reserven haben wir keine.»

Bei den Seidenbergs war das Geld schon immer knapp. Daher hatten die Kinder schon früh Nebenjobs. Während der Zeit im Gymnasium mähten die Zwillinge bei den NachbarInnen den Rasen oder halfen dem Vater auf dem Markt. Im ersten Semester an der Uni suchte sich Manasseh deshalb gleich eine Stelle – er fand eine in einem Restaurant, wo er oft bis spät nachts arbeitete. «Das Lernen kam zu kurz, und ich fiel bei den Prüfungen durch», sagt er. Obwohl er immer gerne arbeitete, habe er seither nur noch in den Ferien gejobbt. «Stattdessen habe ich radikal gespart und unter anderem ein Jahr lang das Zimmer mit einem Mitstudenten geteilt.»

Auch Ephraim arbeitete anfänglich noch im Coop an der Kasse. «Doch es war schlicht zu viel. Ich brach mein Studium an der ETH ab, kündigte den Job und wechselte an die Uni.» Jetzt aber, so sagen beide Brüder, fehle ihnen die Arbeit – an der Uni fühle man sich für seinen Einsatz nicht wirklich wertgeschätzt.

Wenig Verständnis an der Uni

PolitikerInnen, die einst selbst neben dem Studium gearbeitet haben, argumentieren oft: Wenn wir es geschafft haben, dann schaffen es auch andere. Dazu meint Ephraim: «Natürlich funktioniert das System für einige, aber andere zerbrechen an der Unsicherheit. Junge Menschen, die Stipendien beanspruchen, können oft nicht auf stabile Familienverhältnisse zurückgreifen.»

Auch den Einwand, dass mit der Stipendieninitiative nicht plötzlich mehr Kinder aus nicht privilegierten Familien wie den Seidenbergs studieren würden, will Ephraim nicht gelten lassen: «Unsere Eltern waren sehr skeptisch, als wir ihnen sagten, dass wir an die Universität wollen – nun sind wir trotzdem hier. Ohne Stipendien würden wohl noch weniger junge Leute wie wir studieren.» Manasseh Seidenberg gibt seinem Bruder recht. «Bei der Medizin, so habe ich das Gefühl, ist das schon heute so. Ich kenne niemanden, der ein Stipendium bezieht.» Darum sei auch das Verständnis für Geldsorgen unter den Mitstudierenden gering. «Dabei sind Stipendien die beste Investition überhaupt», findet Manasseh, «denn je weniger ich mich ums Geld sorgen muss, desto rascher kann ich Arzt werden und Steuern zahlen.»