Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag: Wahrheit finden – und doch nicht handeln

Nr. 24 –

Die Kriegsverbrechen in Liberia gelangen nicht nach Den Haag, solange die Regierung in Monrovia nicht Hand bietet. Wegen fehlender nationaler Gerichte laufen zahlreiche KriegsverbrecherInnen frei herum.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) wurde 1998 von der Uno ins Leben gerufen, am 1. Juli 2002 trat das Römische Statut in Kraft. Grundsätzlich werden in Den Haag nur Verbrechen untersucht, die seither geschehen sind. Weil Liberia das Statut aber erst 2004, ein Jahr nach Kriegsende, ratifiziert hat, kann Den Haag die Verbrechen nicht ahnden, die während der beiden liberianischen Bürgerkriege geschehen sind. Nur wenn Monrovia mit der Uno vereinbart, ein Sondergericht einzusetzen, könnte der ICC aktiv werden. Dieses Vorgehen hat Freetown gewählt: Die RichterInnen in Den Haag verurteilten 2013 Charles Taylor wegen seiner Kriegsverbrechen in Sierra Leone zu fünfzig Jahren Haft.

Kommission ohne Wirkung

Das Global Justice and Research Project in Monrovia, eine liberianische NGO, die mit der NGO Civitas Maxima aus Genf zusammenarbeitet, dokumentiert zwar möglichst umfassend die Verbrechen aller Kriegsparteien im Land. Doch in Liberia fehlen die rechtlichen Gefässe sowie die nötigen Sicherheitsdienste, um die VerbrecherInnen zu verfolgen – und dies trotz der 2005 installierten Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). Deren im Juli 2009 veröffentlichter Schlussbericht enthält eine Liste von 54 Personen, die wegen ihrer Beteiligung an Verbrechen in der Zeit des Bürgerkriegs geächtet werden sollten. Unter ihnen sind so unterschiedliche AkteurInnen wie die amtierende Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf und Joshua Milton Blahyi, besser bekannt als «General Butt Naked» (General Splitternackt). Während der Präsidentin vorgeworfen wird, in den achtziger Jahren Charles Taylors Aufstand gegen den amtierenden Präsidenten Samuel Doe finanziell unterstützt zu haben, soll der stets nackt kämpfende General unsägliche Menschenrechtsverletzungen begangen haben: Ihm wird die Tötung von etwa 20 000 Menschen vorgeworfen – unter ihnen viele Kinder und Babys.

Die Personen auf der besagten Liste dürften für einen Zeitraum von dreissig Jahren keine öffentlichen Ämter in Liberia einnehmen und sich nicht zur Wahl stellen – tun es aber dennoch und werden auch gewählt. Andere Strafen gibt es bis dato nicht. Auf nationaler Ebene kann es vorkommen, dass im Zuge eines Friedensabkommens eine Amnestie ausgehandelt wird, so geschehen etwa im Friedensvertrag von 2008 zwischen der Regierung der Zentralafrikanischen Republik und der Rebellengruppe Armée Populaire pour la Restauration de la Démocratie.

Eine wichtige Möglichkeit, Kriegsverbrechen bis 2003 aus Ländern ohne funktionierendes Rechtssystem zu ahnden, liegt in den nationalen Gesetzen von Drittstaaten. So wurde im Herbst 2014 Martina Johnson, eine Kommandantin von Charles Taylors National Patriotic Front for Liberia (NPFL), in Belgien verhaftet. Am 10. November 2014 nahm die Polizei in Bern Alieu Kosiah in Gewahrsam, einen Kommandanten des United Liberation Movement of Liberia for Democracy (Ulimo). Dieser lebt seit 1997 in der Westschweiz und war mit einer Schweizerin verheiratet. Er wird beschuldigt, während des ersten Bürgerkriegs für Massaker an ZivilistInnen, Vergewaltigungen und andere Gräueltaten verantwortlich zu sein, als er eine Rebellengruppe gegen Taylors Milizen anführte. In Den Haag wird er sich aber kaum verantworten müssen – es sei denn, die liberianische Regierung vereinbart mit der Uno die Einsetzung eines Sondertribunals für Liberia.

Bisher gelangten 21 Fälle aus acht afrikanischen Ländern an den ICC. Vorermittlungen laufen unter anderem in Afghanistan, Georgien, Guinea, Kolumbien, Honduras, Korea, Nigeria und der Ukraine. Gegenwärtig anerkennen 122 Staaten die Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshofs, darunter auch die Schweiz. Allerdings haben einige der mächtigsten Nationen wie die USA, Russland und China das Römer Statut, die vertragliche Grundlage des ICC, nicht ratifiziert und erkennen damit die Kompetenz des Gerichts nicht an. Die fehlende Universalität der Gerichtsbarkeit ist eine grosse Schwäche des ICC.

Straffreiheit aus Pragmatismus

Als positives Zeichen kann die Tatsache gewertet werden, dass niemand wegen seiner amtlichen Funktion der strafrechtlichen Verantwortlichkeit enthoben ist, wie der Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Baschir zeigt. Dies ist umso bedeutender, als die Verantwortung für die meisten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für Völkermorde und Kriegsdelikte gerade bei hohen Amts- und Militärpersonen liegt.

Allerdings zeigt der Fall Baschir auch, dass oft zwischen Gerechtigkeit sowie wirtschaftlichen und politischen Interessen abgewogen wird. Zentralen Figuren wurde in der Vergangenheit oft Straffreiheit gewährt, weil die Lösung eines Konflikts ohne deren Zustimmung als unrealistisch erachtet wurde: Kritiker des Haftbefehls – etwa China, Russland, die Arabische Liga und die Afrikanische Union (AU) – bezeichneten die Anklage Baschirs als Hindernis für die Friedensverhandlungen in Darfur. Im Juli 2009 verabschiedete die AU sogar eine Resolution, in der sie verkündete, den Haftbefehl zu missachten. Hinter dieser Missachtung des ICC stecken aber auch handfeste ökonomische Verflechtungen: So ist etwa das ICC-kritische China Sudans wichtigster Handelspartner. Weil immer mehr afrikanische Staaten nicht mit Den Haag kooperieren, indem sie etwa wichtige Papiere nicht freigeben und so die Ermittlungen erheblich erschweren, verliert der ICC zunehmend an Glaubwürdigkeit.