Zentrum für politische Schönheit: Die Geister, die wir rufen

Nr. 26 –

In Berlin rief ein Kunstkollektiv zu einer Beisetzung von Opfern der europäischen Abschottungspolitik auf. Doch wie präsent muss der Tod sein, um Leben zu retten? Beobachtungen am «Marsch der Entschlossenen».

Im Getümmel sind viele Symbole von Trauer und Andacht zu sehen, als sich vergangenen Sonntag kurz nach 14 Uhr über 5000 Menschen in der Nähe der Staatsoper Berlin eingefunden haben. Manche sind ganz in Schwarz gekommen: mit Hüten, umhüllt von schwarzer Spitze, oder in gebügelten dunklen Anzügen. Andere sind farbig gekleidet, sie haben Blumen, Kerzen und selbst gemachte Holzkreuze mitgebracht, Grabsteine aus Pappe oder Styropor. Und da sind auch Särge. Aus Karton oder Holz gefertigt. Zusammengeschraubt oder einfach von Klebeband zusammengehalten. Särge, die offenkundig leer sind, so aber auch für mehr als nur einen Menschen stehen.

Die Anwesenden sind dem Aufruf der KünstlerInnengruppe Zentrum für Politische Schönheit gefolgt, um am «Marsch der Entschlossenen» teilzunehmen. Einem Marsch, der bis zum Bundeskanzleramt führen soll. Einem Trauerzug, bei dem am Ende drei Menschen bestattet werden sollen, die auf ihrer Flucht vor Krieg und Armut an Europas Grenzen umgekommen sind. Vor dem Bundeskanzleramt soll dann ein Friedhof entstehen – ein Mahnmal «für die Opfer der militärischen Abriegelung Europas». So lautete offiziell das Ziel des Zentrums für Politische Schönheit. Aber schon der Titel der Aktion, «Die Toten kommen», verweist vor allem auf eines: auf eine Beschwörung der Toten – und zeugt damit von Unruhe und Widerstand. Heisst es nicht, dass die Geister der Verstorbenen einen so lange heimsuchen, bis sie in Würde beigesetzt worden sind und ihre Ruhe gefunden haben?

«Seid brav!»

Schon in den Tagen zuvor hatte die Gruppe mit den offiziellen Bestattungen zweier Menschen in Berlin, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben lassen mussten, internationale Medien und deutsche PolitikerInnen in Aufruhr versetzt. Ein pietätloses Spektakel ohne Wirkung seien diese Aktionen; mediengeile KünstlerInnen würden Tote instrumentalisieren, um sich selbst interessant zu machen, hiess es. Mutig und in ihrer Radikalität unbedingt notwendig, um die Katastrophe am Mittelmeer endlich sichtbar zu machen, fanden andere. Aber waren die Menschen, deren Namen, wie es hiess, «aus Rücksicht auf die Angehörigen» nicht genannt wurden, wirklich in diesen Särgen? Darüber gibt es keine Gewissheit.

Im Vorfeld des Marsches zum Bundeskanzleramt wurden von der Berliner Polizei ganz klare Verbote ausgesprochen: Es wurde untersagt, den Marsch mit einem grossen Bagger anzuführen, der später die Gräber ausheben sollte. Und natürlich wurden die Gräber selbst und vor allem die tatsächlichen Beisetzungen der Toten zwischen Bundestag und Bundeskanzleramt verboten. Aber damit war zu rechnen und wurde auch gerechnet. So sind es Spielzeugbagger, kleine Handschaufeln und selbst gemachte, leere Särge, die den Trauerzug begleiten.

Ein Mitglied der KünstlerInnengruppe verkündet vor dem Marsch – «ganz ohne Ironie» – eine Demonstrationsanleitung durchs Megafon: «Nehmt keine Kerzen, keine Bagger, keine Kreuze und keine Schaufeln mit. Allerhöchstens ein paar Blumen. Seid nicht ungehorsam. Seid nicht kreativ. Organisiert euch auf keinen Fall selbst und errichtet auf keinen Fall in ganz Europa Gräber für die Toten von Europas Grenzen. Seid brav.» Aus der Menge mit den vielen Blumen und Spaten und Kerzen und Kreuzen und Särgen ertönt Gelächter.

Während des Marsches wirken manche der PassantInnen, die das Treiben mit gezückten Smartphones vom Gehweg aus beobachten, betroffener als viele der TeilnehmerInnen, die teilweise locker schwatzend, mit ihren Grablichtern in der Hand, Richtung Bundeskanzleramt marschieren. Man kennt sich, man hat sich zu diesem Marsch verabredet. Eine Frau und ein Mann haben eine Akustikgitarre dabei. Er spielt darauf, und beide singen während des gesamten Umzuges. Als MusikerInnen und SargträgerInnen einmal nebeneinander her schreiten, verbinden sie sich zu einem Bild und einem Anliegen. Die Schwätzchen rundherum verstummen. Die Berliner Polizei, zu diesem Zeitpunkt insgesamt 200 Beamte in voller Montur, hält sich noch zurück.

Auch wenn die Körper der Toten nicht anwesend sind, sie nicht durch Körperlichkeit präsent gemacht werden, so schafft es am Ende gerade der ungeklärte leibliche Verbleib, immer wieder eine Präsenz zu erzeugen. Und das macht viele tatsächlich zu Entschlossenen.

Die leeren Särge

Und so verwundert es nicht, dass der Zaun, den das Grünflächenamt Berlin zum Schutz des Rasens schon vor längerer Zeit rund um den Platz der Republik im Regierungsviertel aufgestellt hat, von den ersten DemonstrantInnen niedergerissen wird und diese einfach darüber hinweg die Grünfläche direkt vor dem Reichstag betreten. Auf der Strasse davor haben die Mitglieder des Zentrums für Politische Schönheit eine grosse Baustellentafel aufgestellt. Die Ankündigung eines Mahnmals, das es so nie geben wird, und davor zwei weisse Särge, bei denen gesichert ist, dass sie leer sind, auch weil die Gerichtsmedizin Moabit das vor der Aktion überprüfen musste. Auf ihnen liegen eine europäische und eine deutsche Flagge.

Kreuze und Särge werden nun auf den gepflegten Rasen des Platzes der Republik getragen. Die Polizei, die angesichts der grossen Menschenmenge zunächst nicht viel tun kann, erhöht ihre Präsenz auf 400 Personen und bildet eine Mauer vor Reichstag und Bundeskanzleramt. Nur wenige Meter von diesen Absperrungen und von lautstarken Parolen wie «Bleiberecht überall! Kein Mensch ist illegal!» oder «Say it loud! Say it clear! Refugees are welcome here!» begleitet, beginnen die Menschen nach einer kurzen Phase der Unsicherheit, symbolische Gräber auszuheben.

Mit kleinen Schaufeln, mit Händen und Füssen rupfen sie den Rasen aus, türmen Erdhügel auf und rammen Kreuze in den Boden. Kerzen werden angezündet und Blumen bedächtig auf den Grabstätten verteilt. Selbst kleine Kinder graben mit den Händen in der Erde; konzentriert und ohne sich von der Menschenmenge oder der grossen Polizeipräsenz stören zu lassen. Aber dann auch wieder brav fotografiert von Mami oder Papi – kann man ja nachher gut herzeigen.

An manchen Grabstätten sitzen Grüppchen im Gras und unterhalten sich. Es ist eine seltsam lockere Atmosphäre zwischen all den Särgen und Grablichtern und Kreuzen. Und doch, am Ende ist der Platz der Republik wirklich ein bisschen zum Mahnmal geworden. Über hundert symbolische Gräber wurden ausgehoben. Es kommt zu kurzen Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und der Polizei, die den Platz schliesslich räumt und einige Personen festnimmt.

Heimsuchung

Was kann die Aktion, abgesehen vom grossen medialen Diskurs um die Grenzen des guten künstlerischen Geschmacks und der neuen Aufgabe für das Berliner Grünflächenamt, wirklich bewirken?

Viele Geschichten von Geisterbeschwörung beginnen mit einem Gefühl von Machtlosigkeit. Und es scheint, dass die Machtlosigkeit angesichts der vielen Toten an Europas Grenzen gross genug geworden ist, um die Toten selbst zu Hilfe zu holen. Aber warum die Toten beschwören, um den Lebenden zu helfen? Und in diesem konkreten Fall: Führt die Beisetzung von Opfern einer Katastrophe allein zur Veränderung der Politik – für die vielen, die noch zu Opfern werden könnten? Erst recht, wenn sie wie am Sonntag bloss symbolisch stattfindet?

In diesem Fall – ob es nun Kalkül der InitiatorInnen war oder nicht – ist vor allem der Moment der Abwesenheit der Toten zum stärksten Teil des Projekts geworden. Werden echte Särge in die Erde gelassen, echte Menschen beerdigt, ist es eine furchtbar traurige, aber abgeschlossene Erzählung eines Todes. Es sind gerade die leeren Särge, die Kreuze ohne Namen und die symbolischen Gräber, die die vielen, die sterben mussten, und die vielen, die noch sterben werden, am stärksten heraufbeschwören und nach Berlin bringen – nicht um zu ruhen, sondern um präsent zu sein. Ein virulentes Mahnmal, eine selbst beschworene Heimsuchung. Wäre das alles nur ein grausames Märchen, wäre es eine mögliche Wendung zum Leben hin.

Der Chefunterhändler

Nach Stefan Kaegi von der Theatergruppe Rimini Protokoll und Milo Rau sorgt abermals ein Schweizer international für Aufsehen, indem er die Grenzen zwischen performativer Kunst und dem Realen einreisst: Philipp Ruch, seines Zeichens «Chefunterhändler» des von ihm gegründeten Zentrums für Politische Schönheit.

Ruch wurde 1981 als Sohn einer Deutschen und eines Schweizers in Dresden geboren. Kurz vor dem Fall der Mauer zog die Familie nach Bern, wo Ruch seine Jugend verbrachte. Später hat er in Berlin bei Herfried Münkler in Politischer Philosophie promoviert. Im August erscheint im Heyne-Verlag sein Buch «Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest».