China: Spott und Hohn für die Börsenpolizei

Nr. 29 –

Durch einen massiven Börsenabsturz haben Millionen chinesischer KleinanlegerInnen ihre bescheidenen Vermögen verloren.

Eigentlich wollte sich Vivian Xu eine Wohnung kaufen. Mit ihrem Bachelorabschluss einer einigermassen guten Universität und soliden Englischkenntnissen verdient sie knapp 10 000 Yuan (umgerechnet rund 1500 Franken) netto im Monat. Das reicht aber – besonders wenn man immer das neuste Smartphone kaufen muss – nicht für eine Wohnung. Nicht einmal dann, wenn man sich die Smartphones von Bekannten aus Hongkong mitbringen lässt, wo sie billiger sind.

Also hat Xu ihre Eltern um ein Darlehen gebeten. Nicht für eine Wohnung in Beijing, wo sie arbeitet, sondern in Shenyang, wo sie studiert hat – und wo die Preise noch steigen können. In Beijing liegt der Verkaufspreis pro Quadratmeter bei über 40 000 Yuan (6100 Franken), da liegt nicht mehr viel drin. Nur durch das gezielte Streuen von Gerüchten – die Beijinger Stadtverwaltung plane einen Umzug nach Baoding oder Langfang, oder bestimmte Ministerien sollten nach Mentougou ausgelagert werden, oder irgendwelche berühmten Universitäten würden nach Changping verlegt – wird immer mal wieder versucht, die dortigen Quadratmeterpreise noch ein bisschen in die Höhe zu treiben. Aber selbst die Anzahl der Beijinger Vororte ist begrenzt.

Aktienkauf über eine Art eBay

Xus Eltern wollten ihr aber nicht so viel Geld leihen. Und weil das der eigenen Tochter gegenüber ein bisschen unangenehm zu kommunizieren ist, haben sie ihr stattdessen 100 000 Yuan geschenkt. Freunde rieten Xu zum Kauf des Militärfirmenfonds Nr. 161 024. Bei dem jährlich steigenden Verteidigungsbudget der Volksrepublik und den Spannungen wegen der Riffe beziehungsweise Inseln im Südchinesischen Meer eine todsichere Sache. «Um Aktien zu kaufen, muss man zur Bank gehen und ein spezielles Aktienkonto eröffnen», sagt Xu. Dafür hatte sie nicht die Zeit. Sie kaufte ihre Fondsanteile deswegen einfach bei dem chinesischen eBay-Pendant Taobao. Die Gebühren waren lächerlich niedrig – normalerweise betragen sie drei Prozent, aber Taobao hatte gerade ein Sonderangebot und gab siebzig Prozent Rabatt.

Andere haben sich die Zeit genommen: 4,8 Millionen neue Aktienkonten wurden allein im März eröffnet, als es so richtig losging. Im April kam noch eine Million neuer Konten dazu. Anfang April kostete ein Anteil von Fonds Nr. 161 024 noch 0,86 Yuan. Aber dann ging es steil nach oben. «Heute habe ich fünf Prozent gewonnen», berichtete Xu noch Anfang Juni fast täglich. Und Xu hatte sich sogar eine Ausstiegsstrategie überlegt: Kurz vor den Feierlichkeiten zum «siebzigjährigen Andenken an den antijapanischen Widerstandskrieg des chinesischen Volks und an den Sieg im weltweiten antifaschistischen Kampf» Anfang September – anlässlich derer eine grosse Militärparade geplant ist – wollte sie verkaufen. Nr. 161 024 stieg und stieg bis auf 1,38 Yuan – viele von Xus FreundInnen wurden neidisch und kauften auch.

Dabei warf kaum jemand einen Blick auf das Kurs-Gewinn-Verhältnis der Aktien – aber es sind sowieso Militärfirmen: Wie viel Gewinn die ausweisen, ist eine politische Entscheidung und keine wirtschaftliche Aussage. Genau so wie Xu handelten eigentlich alle AnlegerInnen. Und deswegen stieg in Zeiten schwächer werdenden Wirtschaftswachstums und niedrigerer Unternehmensgewinne die chinesische Marktkapitalisierung (der Gesamtwert aller börsennotierten Aktien) zwischen Januar und Mai von rund sechs auf über zehn Billionen US-Dollar. Das ist immerhin halb so viel wie die Marktkapitalisierung des New York Stock Exchange.

Gegen «bösartige Leerverkäufe»

So war es bis Mitte Juni. Seitdem ist der Preis des Fonds Nr. 161 024 gesunken. Und zwar – wie das nun einmal so ist – noch schneller, als er vorher gestiegen war. Ein Absturz bis auf 0,83 Yuan. Und genauso bergab ging es mit dem gesamten chinesischen Aktienmarkt. Binnen Tagen «verschwand» der Gegenwert von über drei Billionen US-Dollar. Das ist ungefähr so viel, wie die chinesische Zentralbank an Devisenreserven hält. Selbst wenn der Betrag rechnerisch auf die 90,6 Millionen chinesischen AktienkontoinhaberInnen und ungezählten Taobao-KundInnen aufgeteilt wird, ist das noch sehr viel Geld.

Zunächst wurde versucht, der Krise auf klassischem Weg beizukommen: Feindliche Kräfte im Ausland wurden dafür verantwortlich gemacht, und Leute, die Gerüchte in Umlauf bringen – zum Beispiel, dass in den grossen Städten die AnlegerInnen bereits massenweise von den Hochhäusern sprängen –, wurden verhaftet. Aber das half nichts. Also nahm die Regierung viel Geld in die Hand. Die BrokerInnen wurden zunächst verpflichtet, für 20 Milliarden US-Dollar Aktien einzukaufen, an die 21 grössten BrokerInnen verlieh die Regierung dafür 42 Milliarden US-Dollar. Die Zentralbank senkte die Zinsen. Ein «Wachstumspaket» über 40 Milliarden US-Dollar wurde angekündigt.

So weit, so marktkonform. Dazu kamen dann noch administrative Eingriffe in den Markt: Fast die Hälfte der Aktien wurde einfach aus dem Handel genommen – sinken können deren Preise dann natürlich nicht mehr. Grosse AnteilseignerInnen, die mehr als fünf Prozent der Aktien eines Unternehmens halten, müssen ihre Pakete erst einmal ein halbes Jahr lang halten. Aktienneuemissionen sind bis auf Weiteres ganz verboten.

Und zu der – wie die ChinesInnen spotten – «Aktienmarktrettungs-Nationalmannschaft», bestehend aus Zentralbank, Finanzministerium, nationaler Ressourcenkommission, Börsenaufsicht, Banken- und Versicherungsaufsicht, gesellte sich auch noch die Polizei. Deren Aufgabe ist es, gegen «bösartige Leerverkäufer», also Spekulation auf fallende Kurse, vorzugehen. Wobei der Begriff «bösartige Leerverkäufe» in keinem Gesetz auftaucht. Und es ist – im Gegensatz etwa zum Wort «Insiderhandel» – auch gar nicht klar, was damit eigentlich gemeint ist. Geht es da um besonders grosse Leerverkäufe? Und gibt es auch «gutartige Leerverkäufe»?

«Wirklich zum Totlachen», findet Vivian Xu diesen Polizeieinsatz. Und dann sagt sie noch: «Leider habe ich kein Geld. Aber wenn ich welches hätte, dann würde ich gerade jetzt einsteigen …» Nr. 161 024 steigt derzeit nämlich täglich um die sechs Prozent. «Aber nicht so wie das letzte Mal», sagt Xu. «Da ging es den ganzen Tag gleichmässig bergauf.» Jetzt steigt der Preis zu Beginn des Börsentags um sechs Prozent und bleibt dann konstant. «Das ist», sagt Xu, «weil das jetzt unsere Regierung macht.»

Ein Jahrhundertcrash

Im Schatten der EU-Griechenland-Krise hat sich in China der grösste Börsenabsturz seit dem Wall-Street-Crash von 1929 ereignet. Mit rund 3,2 Billionen US-Dollar wurde innerhalb eines Monats ein Buchwert von mehr als dem Dreizehnfachen des griechischen Bruttoinlandsprodukts vernichtet.

Auch wenn es den chinesischen Institutionen inzwischen gelungen ist, den Absturz mit drastischen Massnahmen zumindest kurzfristig abzuwenden, bleibt die Börsenentwicklung ein Risiko insbesondere für die regierende Kommunistische Partei (KP). Laut Sandra Heep vom Mercantor Institute for China Studies in Berlin hat die KP, die die KleinanlegerInnen in ihr Börsenabenteuer drängte, so oder so einen argen Vertrauensverlust erlitten.

Neben vermehrten Protesten könnte laut Heep verminderter Konsum die Folge sein. Zudem seien nun Privatunternehmen im Technologiesektor, die von der Börsenblase besonders profitierten, wieder mit Finanzierungsschwierigkeiten konfrontiert. Dadurch dürfte sich das Wachstum, auf dem ein grosser Teil der Legitimität der KP beruht, noch mehr abschwächen.