Türkei: Erdogans zwei Feldzüge

Nr. 32 –

Seit dem Wahlerfolg der kurdischen Partei HDP hat der türkische Präsident mit den KurdInnen eine Rechnung offen. Der Anschlag in Suruc kam Recep Tayyip Erdogan dabei wie gerufen.

Der Stress war ihm anzusehen, als er in Ankara vor den JournalistInnen stand. «Ich mache keinen einseitigen Aufruf», sagte Selahattin Demirtas. Der Kovorsitzende der kurdischen Oppositionspartei HDP forderte: «Die PKK muss sofort die Waffen ruhen lassen; daraufhin muss auch die Regierung ihre Operationen stoppen, um den Weg für den Dialog wieder zu öffnen.»

Das war am letzten Sonntag, an einem blutigen Wochenende mit mehreren Toten, für die die türkischen Behörden die kurdische Arbeiterpartei PKK verantwortlich machten. Diese hatte sich für die rund 260 getöteten PKK-KämpferInnen gerächt, die zuvor durch Angriffe der türkischen Luftwaffe ums Leben gekommen waren.

Wendepunkt in der Strategie

Sieben Wochen zuvor sah die Situation noch ganz anders aus. Demirtas ging bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni als grosser Sieger hervor, wurde im ganzen Land gefeiert. «In der Türkei sind die Diskussionen um das Präsidialsystem und die Diktatur beendet», sagte der kurdische Politiker damals selbstsicher. Seine HDP hatte dreizehn Prozent der WählerInnen hinter sich vereint und war ins Parlament eingezogen (siehe WOZ 24/2015 ). Damit verhinderte sie den Plan von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, mit einer absoluten AKP-Mehrheit im Parlament ein Präsidialsystem einzuführen, das seine persönliche Vormachtstellung ausweiten würde.

Sieben Wochen später sind die KurdInnen – wie schon so oft in den vergangenen Jahrzehnten – die VerliererInnen. Nun herrscht eine Atmosphäre der Angst: Angehörige trauern um ihre Toten, Erdogan kriminalisiert lautstark alle HDP-PolitikerInnen, und die PKK ermordet türkische Sicherheitskräfte.

Seit dem Wahlerfolg der HDP hat Erdogan mit den KurdInnen eine Rechnung offen. Sein Rachefeldzug begann unmittelbar nach dem Anschlag in der türkischen Stadt Suruc nahe der syrischen Grenze. Am 20. Juli hatte sich dort ein Selbstmordattentäter während einer Anti-IS-Veranstaltung in einem Kulturzentrum in die Luft gesprengt. Bei dem Treffen von etwa 300 prokurdischen TeilnehmerInnen waren Hilfslieferungen für die vom Islamischen Staat (IS) zerstörte nordsyrische Stadt Kobane koordiniert worden. Mehr als dreissig Menschen starben. Auch wenn sich bisher niemand zu dem Anschlag bekannt hat: Ankara mutmasst, dass der IS dahintersteckt.

Der Anschlag hat das Land verändert. Während Erdogan vorgibt, den Terror bekämpfen zu wollen, führt er jetzt zwei Feldzüge auf einmal, von denen jeder für sich bereits einen Kurswechsel in der militärischen Strategie des Landes darstellt: Die Türkei beteiligt sich nun mit der Bombardierung von Positionen der IS-Milizen in Syrien und der Bereitstellung von Luftwaffenstützpunkten für Militäreinsätze der USA zum ersten Mal am Kampf gegen den IS.

Parallel dazu hat die Türkei der PKK den Krieg erklärt, nachdem diese aus Rache in Suruc zwei türkische Polizisten erschossen hatte, die angeblich mit dem IS sympathisiert hatten. So startete Ankara Raketenangriffe auf kurdische PKK-Stellungen im Irak. Erst Erdogan und dann die PKK erklärten den Friedensprozess für beendet und kündigten den seit zwei Jahren anhaltenden Waffenstillstand auf.

«Erdogan provoziert die PKK»

«Erdogan ist nicht mehr an einer politischen Lösung des Konflikts mit Damaskus und der PKK interessiert», sagt Ismet Akca, Politikwissenschaftler an der Istanbuler Yildiz-Teknik-Universität. Nur mit den Unruhen in der Türkei könne Erdogan seinen Einfluss sichern und die ihm gefährlich gewordene HDP loswerden. Deswegen setze er nun auf eine nationalistisch-militärische Strategie. «Er will den Türken zeigen, dass es ohne eine stabile AKP-Regierung wieder Terror in der Türkei geben wird», so Akca.

Das Staatsoberhaupt provoziere die PKK, damit diese zurückschlage. Die Angriffe, meint Akca, könnten das Ansehen der HDP schädigen, weil die Partei immer wieder im Verdacht steht, enge Verbindungen zur PKK zu unterhalten. So forderte Erdogan schon die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von HDP-FunktionärInnen und deren strafrechtliche Verfolgung. «Wer mit der Terrororganisation verbandelt ist oder sich an eine Terrororganisation anlehnt, muss den Preis dafür bezahlen», sagte Erdogan. Zwar bestritt Demirtas diesen Vorwurf als «schmutzige Propaganda». «Wir haben zur PKK überhaupt keine Beziehungen», stellte er klar. Die HDP bekomme «von niemandem Anweisungen, auch nicht von der PKK».

Doch so ganz stimmt auch das nicht. Ihre Verbindungen zur PKK hatte die HDP zuvor nie verschleiert. Immer wieder waren Delegationen der Partei bei PKK-Chef Abdullah Öcalan im Hochsicherheitsgefängnis und bei Mitgliedern der PKK-Führung in den irakischen Bergen zu Besuch. Zur gleichen Zeit fanden Gespräche zwischen der türkischen Regierung und der PKK statt. Die Nähe zwischen HDP und Öcalan sorgte deshalb nicht für Unmut.

Neuwahlen werden wahrscheinlicher

Jetzt hat sich die Situation geändert. Die PKK wird von Erdogan instrumentalisiert: Mit ihren alten Reflexen, Soldaten, Polizisten und Zivilistinnen zu ermorden, erweisen die kurdischen SeparatistInnen Erdogan einen grossen Dienst. Der kann die HDP nun als Terrorhelferin brandmarken – und so in einer nationalistisch angeheizten Atmosphäre bei der ultranationalistischen MHP zusätzliche Stimmen abfischen. Bei eventuellen Neuwahlen könne er die HDP womöglich ganz aus dem Parlament werfen und so doch noch die erträumte absolute Mehrheit erhalten, sagt Politikwissenschaftler Akca.

Neuwahlen werden in der Tat immer wahrscheinlicher. Eigentlich sollte bis zum 23. August eine neue Regierungskoalition gebildet werden. Doch bisher brachten die Koalitionsgespräche kein Ergebnis. So vergeht kein Tag, an dem Regierungsmitglieder und regierungsnahe Medien die HDP-VertreterInnen nicht als TerroristInnen beschimpfen. Gelegentlich heisst es sogar, HDP-nahe Kräfte stünden in Wirklichkeit hinter dem Anschlag von Suruc.

«Feldzug gegen den Terrorismus»

Mit zunehmendem Selbstvertrauen der KurdInnen wurde Ankara immer nervöser, die türkische Angst vor einem unabhängigen kurdischen Staat wuchs. Dass Baschar al-Assad – Erdogan ist ein ausgewiesener Feind des syrischen Präsidenten – noch immer herrscht, musste Erdogan hinnehmen.

Mit den DschihadistInnen in seiner Nachbarschaft hat sich der Präsident lange Zeit abfinden können, mit den nach Autonomie strebenden KurdInnen allerdings nie. Während in Syrien der Bürgerkrieg tobte, entstand in Nordsyrien die de facto autonome kurdische Region Rojava (siehe WOZ Nr. 26/2015 ).

Als die Kämpfe zwischen den KurdInnen und dem IS um die Stadt Kobane eskalierten, schritt Ankara nicht ein. Auch nicht, als kurdische KämpferInnen den IS mit US-Unterstützung aus dem türkisch-syrischen Grenzort Tall Abjad vertrieben. Stattdessen liess die türkische Regierung potenzielle IS-Kämpfer nach Syrien passieren und schwächte so die kurdischen KämpferInnen noch zusätzlich.

Spätestens seit dem Anschlag von Suruc funktioniert diese Politik nicht mehr. Den internationalen Imagegewinn der kurdischen Milizen, die sich als die hartnäckigsten KämpferInnen gegen die DschihadistInnen erwiesen hatten, und der beachtliche Erfolg der HDP bei den Parlamentswahlen konnte Erdogan nicht akzeptieren: Darauf reagiert er nun, indem er die KurdInnen angreift. Dem Präsidenten kam der «Feldzug gegen den Terrorismus» also gerade recht.

Und der Einzige, der bedeutenden Einfluss auf die PKK hätte, sitzt abgeschottet auf der Gefängnisinsel Imrali. PKK-Chef Öcalan verbüsst dort seit sechzehn Jahren seine lebenslange Haftstrafe. Seit mehreren Monaten lassen die Behörden keine BesucherInnen mehr auf die Insel. So ist auch nicht zu erfahren, wie er zu Erdogans perfider Strategie steht.