Brasilien: Ein weisser Elefant verdurstet

Nr. 35 –

Der Rio São Francisco soll umgeleitet werden, um den trockenen Nordosten Brasiliens zu bewässern. Aber der einst mächtige Strom droht vorher zu versiegen. Die Katastrophe ist menschengemacht.

In Parnamirim fehlt das Wasser. Seit fünf Jahren leidet die Kleinstadt im Hinterland des brasilianischen Bundesstaats Pernambuco unter anhaltender, fast schon biblischer Dürre. Die beiden Stauseen, aus denen rund 25 000 Menschen mit Wasser versorgt werden, sind auf weniger als zehn Prozent ihrer ursprünglichen Grösse geschrumpft. Auf Satellitenbildern ist zu erkennen, wie sie versanden. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft der Gegend wirft immer weniger ab, die Menschen ziehen notgedrungen weg. Der Ort droht zu sterben.

Die Wasserknappheit in Parnamirim ist kaum erstaunlich. Der Ort liegt im Sertão, einer mehrere Bundesstaaten umfassenden Region im Nordosten Brasiliens, die zwar keine Wüste, aber in grossen Teilen extrem trocken ist. Die Wasserknappheit ist einer der Gründe, warum im Sertão seit Jahrhunderten Armut herrscht und es immer wieder zu Konflikten kommt.

Es schien also eine gute Idee zu sein, als Brasiliens damaliger Präsident Lula da Silva 2006 ein gigantisches Bewässerungsprojekt ankündigte, mit dem Wasser auch nach Parnamirim gebracht werden sollte. Man würde, so der Regierungsplan, Wasser aus dem Rio São Francisco entnehmen und über zwei Hauptkanäle sowie kleinere Zubringerkanäle über Hunderte von Kilometern in die Gemeinden des trockenen Nordostens leiten. Zwölf Millionen Menschen würden davon profitieren.

Doch bis heute ist kein Tropfen Wasser aus dem Rio São Francisco nach Parnamirim gelangt. Die Arbeiten an den Kanälen, die 2007 begonnen wurden und 2010 beendet sein sollten, stocken vielerorts oder sind ganz eingestellt. Mancherorts ist der Beton der künstlichen Wasserstrassen bereits aufgeplatzt. Die Kosten des Projekts, einst auf umgerechnet 1,3 Milliarden Franken kalkuliert, haben sich verdoppelt.

Die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff hat nun das Jahr 2017 als neuen Fertigstellungstermin genannt. Siebzig Prozent der Arbeiten seien bereits abgeschlossen, heisst es in der Hauptstadt Brasília. Ob die Felder in Parnamirim eines Tages mit Wasser aus dem Rio São Francisco zum Grünen gebracht werden, ist jedoch fraglich. Auch dort, wo er entspringt, wird das Wasser immer knapper: Im Südosten Brasiliens versiegen die Quellen und Zuflüsse des einst riesigen Stroms. Das Kanalprojekt würde ihm wohl endgültig den Garaus machen und seine Fischbestände sowie die Vogel- und Pflanzenwelt irreparabel schädigen. Es wäre eine Katastrophe für ganz Brasilien.

Menschengemachte Wasserknappheit

Der Rio São Francisco ist mit fast 3000 Kilometern Länge einer der wichtigsten Ströme des Landes. Schätzungen zufolge hängen vierzig Millionen Menschen direkt oder indirekt von ihm ab. Nun ist er auf weite Strecken nur noch ein Rinnsal, und das pharaonische Kanalprojekt, von dem Brasiliens Regierungen schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts träumen, sieht immer mehr aus wie ein Milliardengrab.

Dabei ist die Wasserknappheit am Quellort des Rio São Francisco von Menschen gemacht. Sie hat mit der Abholzung des Regenwalds im Amazonasbecken zu tun. In einer aktuellen Studie stellt das brasilianische Raumforschungsinstitut Inpe fest, dass über weiten Flächen der Amazonasregion keine feuchten Luftmassen mehr entstehen. Einst standen dort riesige Wälder, aus denen grosse Mengen Wasser verdunsteten und in mächtigen Wolkenformationen in Richtung Süden zogen, um sich dort abzuregnen. Heute wächst auf immer grösser werdenden Flächen Exportsoja, oder es grasen Rinder. Statt die Abholzung des Regenwalds einzudämmen, hat sich die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff zur Verbündeten der Agrarindustrie gemacht.

Die Folge sind die schlimmsten Wassernotstände seit über hundert Jahren in Brasiliens industriellem Ballungsgebiet, den bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais. In Letzterem entspringt der Rio São Francisco.

Die Umleitung des Flusses war von Beginn an umstritten. UmweltschützerInnen warnten vor möglichen katastrophalen Folgen und wiesen auf einen absurden Widerspruch hin: Um den Menschen in einer der ärmsten Regionen Brasiliens zu helfen, wolle man die Lebensgrundlage von anderen gefährden.

Klotzen, nicht kleckern

Aber die seit 2002 regierende Arbeiterpartei hatte nie ein offenes Ohr für Bedenken von Umweltschützern oder Wissenschaftlerinnen. Sie verfolgte von Anfang an ein antiquiertes, fast schon sowjetisches Entwicklungsmodell. Statt lokale Lösungen zu suchen, setzte sie auf Megaprojekte. Insbesondere Präsidentin Dilma Rousseff scheinen solche sogenannten weissen Elefanten zu gefallen. Umweltschutz und Wachstum gelten ihr noch immer als Gegensätze. Sie will klotzen, nicht kleckern.

Weitere Beispiele für dieses megalomanische Denken sind der umstrittene Bau des Staudamms Belo Monte im Amazonaszufluss Rio Xingu oder das Atomkraftwerk Angra III, das am Atlantik südlich von Rio de Janeiro entstehen soll. Es sind Prestigeprojekte, mit denen die Regierung die grossen technologischen Fähigkeiten Brasiliens beweisen will – und die in Wirklichkeit nur die Rückständigkeit seiner politischen Eliten offenbaren. In Parnamirim wird man wohl auch deshalb weiter darauf warten müssen, dass sich der Traum vom Wasser erfüllt.