Jörg Schneider (1935–2015): «Und wänn ich nüme räubere cha, dänn tuen ich alles zämeschlaa!»

Nr. 35 –

Natürlich hat der verstorbene Volksschauspieler Jörg Schneider viel mehr gemacht als nur den Kasperli. Aber man muss sein grösstes Werk jetzt nicht kleinreden, bloss weil es für die Kleinen gedacht war.

Jörg Schneider, Schauspieler.

Ich war fünf Jahre alt, als ich 1978 in der Stube auf dem Sofa lag, das Plattencover an die angewinkelten Beine gelehnt, die Vinylplatte drehte sich. Plötzlich wurden die Vorhänge zu Wäldern, die Kissen zu Moos, der Teppich zur Blumenwiese, auf der Gritli ihren Maien pflückte. Und hinter der Küchentür spähte schon Häx Hinkebei hervor.

Zwölf Jahre später, an der Schule für Gestaltung, imitierten wir in meiner Klasse die lustigsten Kasperli-Nebendarsteller, ich mixte Hexenmeister Polderi mit einem Hip-Hop-Beat zusammen. Heute hören auch meine Kinder wieder Kasperli-CDs. Sie hören viele andere Sachen, aber am liebsten haben sie den Kasperli. Durchdesignte Kinderwelten wie «Bob der Baumeister», «Paw Patrol» oder «Käpt’n Sharky» haben inzwischen die Kinderzimmer erobert. Mit Action und vielen Soundeffekten, Liedern zum Mitsingen, mustergültigen Charakteren und politisch korrekten Rollenbildern, alles blitzblank wie der Badezimmerboden.

Dada, aber deftig

Jörg Schneiders Kasperli-Hörspiele, die sich auch heute noch zehntausendfach im Jahr verkaufen, gehen genau andersherum. Man spürt keine pädagogischen Beraterstäbe im Hintergrund. Es ist mehr wie Punk. Viel Anarchisches, viel Dadaismus, viel Bosheit, aber am Ende siegt das Gute. Doch Kasperlis Stockschläge, die am Schluss auf den Bösewicht niedergehen, sind deftig; so wie seine Sprüche dazu. Statt Musikorchester gibts einfachste selbst gemachte Töne (Fensterläden, die eine Holztreppe hinuntersausen, herumfliegendes Gerümpel, zerschellende Glasflaschen).

Schneiders Hörspiele sind keine Vertonung von Gezeichnetem oder Geschriebenem, wie das bei Globi oder Papa Moll der Fall ist. Sie sind nie in Buchform erschienen. Auch wenn der Grafiker Heinz Stieger die Figuren auf seinen wunderbaren Covers zeichnete: Die genaue visuelle Vorstellung macht nach wie vor jedes Kind selber im Kopf oder eben, wie ich damals in der Stube, in dem Raum, in dem es gerade sitzt – ganz ähnlich, wie es Max aus Maurice Sendaks Bilderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» tut. Es ist den Verantwortlichen hoch anzurechnen, dass sie diese Schweizer Erfolgsgeschichte nie kommerziell ausbauten und ausweiteten.

Jörg Schneiders Begabung beschränkte sich aber nicht auf den Kasperli, diesen Oberschnäderi, dem er zwischen 1967 und 1976 in insgesamt vierzig Geschichten seine Stimme lieh. Seine Meisterschaft zeigte sich auch in der Erfindung toller Nebenrollen. Meist haben diese Figuren einen sprachlichen Tick, oder sie wiederholen immer wieder denselben Spruch. Der Räuber Chnollenas zum Beispiel ist eine räudige, weniger kultivierte Version von Otfried Preusslers Räuber Hotzenplotz, dessen Dialektfassung einst ebenfalls Schneider anvertraut wurde. Chnollenas raubt dem unter «Hitzgi» leidenden und deshalb so genannten Ritter Hitzgi seine Schatzkiste. Sein Gesang geht so: «Ich bi de Räuber Chnollenas, Chnollenas, Chnollenas, ich boosge dies und boosge das, trallala trallalaaa. Und wänn ich nüme räubere cha, dänn tuen ich alles zämeschlaa.» Eine ansteckende Hymne des kindlichen Chaotentums. Natürlich lebt diese Rolle vom unnachahmlichen Paul Bühlmann, der zusammen mit Schneider und Ines Torelli alle Stimmen sprach. Aber die Figuren stammen aus Schneiders Feder.

Obrigkeit mit Sprachfehler

Neben seinem Sprachwitz und seinem dramaturgischen Talent, so hat der Illustrator Jerzovskaja auf Facebook geschrieben, besass Jörg Schneider auch «einen guten inneren Kompass für Anstand und Moral, für Respekt, für menschliche Grundwerte». Gerade deshalb nimmt man ihm heute noch ab, was sich andere eher nicht erlauben könnten. So ist der Wachtmeister Brumm («Da isch d Po-Polizei!») aus «De Velochlauer chunnt is Chefi» nicht etwa eine Witzfigur auf Kosten von Leuten mit Sprachfehlern, sondern die Karikatur einer inkompetenten Obrigkeit. Und der Tölpel, der trottelige Diener der Häx Nörgeligäx, der den eingesperrten Umemuuli zum Putzen bewegen soll, ist auch keine Verhöhnung von geistig Behinderten, sondern führt vielmehr die Blödheit von blindem Gehorsam vor.

Dagegen geht das kolonialistische Afrikabild aus «De Schorsch Gaggo reist uf Afrika» gerade noch knapp als zeittypisch durch. Die Geschichte vom ängstlichen Häuptling Krambambuli, der vom Schweizer Kasperli erlöst werden muss, verläuft haarscharf auf der Grenze zwischen kindlicher Vorstellungswelt und schierem Rassismus. Zwar wird Krambambuli in der entschärften Version neuerdings nicht mehr als «Negerhäuptling» bezeichnet, aber er spricht immer noch mit dem Wortschatz eines Kleinkinds. Eigenartig ist eher, dass die Grenzen zwischen dem Schweizerischen und dem exotisierten Anderen auf der sprachlichen Ebene in schönster kindlicher Anarchie wieder aufgelöst werden: Der afrikanische Löwe, vor dem sich Krambambuli so fürchtet (und der Schweizer Kasperli natürlich nicht), spricht nämlich reines Zürichdeutsch.

Angsthasen und Nervensägen

Die Liste der grossartigen Figuren aus Schneiders Feder ist schier endlos: Da ist der pillenzählende Apotheker Pülverli («Zum Pillelipülverliplötzelipotz!») aus «D Indianer-Zaubermedizin» oder der Malermeister Pinseler, der auch sprachlich immer alles doppelt anstreicht («Jetzt maled mer die Läde halt bruun a, maled mers bruun») aus «D Häx Nörgeligäx und de Umemuuli». Da ist der Angsthase Geuferludi, der immer Süsses schleckt (aus «Di gschtole Schatzchischte»), oder der überforderte Herr Lehrer Tüpfli («Ou du mis Nervebündeli») aus «E gschtörti Schuelschtund» bis hin zum Jägermeischter Möösli, der aus Erbarmen mit den Tieren nie schiesst (aus «D Fee Schwäfelblitz im Dracheloch»). Da sind die beiden Nervensägen Zwängeli und Bängeli mit ihrer Mutter Frau Hopfemalz, die ihre Desillusionierung schon im Namen trägt («Vom Zwängeli und vom Bängeli»). Da ist der faule Schlaraffenkönig Pfuusius, der nie sitzen gelernt hat («Brate guet, ässe, alles ässe, und trinke, und pfuuse») aus «De Dicksack im Schlaraffeland». Oder da sind die beiden leicht reizbaren Hexenmeister Cholderi und Polderi. Nachdem sie gemeinsam einen grossen Stein verschoben haben, wimmert Letzterer: «Aua, du häsch min Zeche verquätscht.» Cholderi antwortet: «Dänn chasch echli Zucker drüberschtreue und en mit em Kafilöffeli zämechratze wien es Zwätschgemüesli.»

In vielen Nachrufen konnte man jetzt lesen, dass Jörg Schneider viel mehr als nur den Kasperli gemacht habe. Das stimmt zwar, allerdings wird der Kasperli dadurch fast wieder kleingeschrieben. Man muss das Grösste, was Schneider erschaffen hat, nicht kleinreden, bloss weil es für die Kleinen gedacht war. Dieses Werk wird bleiben – als ein Stück Schweizer Kulturgut des 20. Jahrhunderts wie auch als Sprachlexikon des Zürichdeutschen, mit vielen Wörtern, die nicht vergessen werden sollten («bäumig», «schüüli», «gschpässig» und «hämpergschtältli»). Der sprachliche Erfindungsgeist, den Jörg Schneider in seinen Kasperli-Hörspielen zeigte, wird auch für künftige Generationen ein Segen sein.

Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur 
und als solcher sicher auch ein bisschen von
 Heinz Stiegers Coverzeichnungen für die Kasperli-Hörspiele beeinflusst.