Clemens J. Setz: «Immer fünf Zweitstimmen in mir»

Nr. 38 –

Tapetentüren zum Unheimlichen: Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz hat einen hochgradig bizarren Tausendseitenroman geschrieben. Jetzt will er sich das Schreiben ein bisschen abgewöhnen.

«Immer wieder gestorben zu sein, ist eine der wichtigen frühen Erfahrungen von Menschen meiner Generation»: Schriftsteller Clemens J. Setz. Foto: Hans Hochstöger, Focus, Suhrkamp Verlag

WOZ: Herr Setz, Ihr letzter Roman, «Indigo», spielte in einem Internat, Ihr neues Buch in der Psychiatrie. Hegen Sie eine besondere Faszination für solche Anstalten, oder sind das einfach literarisch besonders fruchtbare Orte?
Clemens J. Setz: Das sind sie bestimmt. Es ist wie bei einem Sonett: Wenn man in vierzehn Zeilen alles sagen muss, neigt man dazu, wirklich alles zu sagen. So ähnlich ist es mit der räumlichen Beschränkung des Settings. Wenn man nur ein Haus hat, muss man darin alles unterbringen, wie Thomas Mann mit seinem Sanatorium im «Zauberberg». Abgeschlossene räumliche Verhältnisse sind befreiend. Und sie verleihen dem Schreibenden den Gestus einer vollständigen Abbildung der Welt. Das nächste Buch, an dem ich jetzt arbeite, ist sogar noch enger beschränkt, noch kapsulärer, kann man das sagen?

Warum nicht? Ja.
Kapselhafter. Abgekapselt. Am Ende schreibe ich wahrscheinlich Bücher wie «The Room» von Hubert Selby, wo ein Mensch allein in einer Zelle sitzt. Andererseits muss man auch nicht immer so selbstähnlich sein und seiner eigenen Tendenz sklavisch nachlaufen. Man muss ja nicht immer erfüllen, was man selber an Programmen in sich hat.

Sie haben immer in Ihrer Geburtsstadt Graz gelebt?
Ja. Es ist keine Tugend, und ich würds auch nicht empfehlen. Ich glaube, es ist eher ungesund für die Seele, wenn man immer am selben Ort ist. Aber so ist es jetzt halt. Ich langweile mich da auch witzigerweise nicht mehr. Ich weiss nicht, wie die Stadt das macht, aber es scheint immer irgendwas zu passieren. Das Glück dabei ist, dass in Graz das ganze Universum enthalten ist. So wie der Comicautor Alan Moore ja immer betont, dass in Northampton die ganze Welt drin sei.

Ich habe gehört, Sie seien ganz ohne Religion aufgewachsen.
Ja, der Glaube hat in meinem Leben nie eine Rolle gespielt. Meine Eltern haben das nie erwähnt. Man kriegt das schon in der Schule mit, aber der Religionsunterricht war nicht dogmatisch. Natürlich, das Umfeld ist katholisch, man spürt schon die Macht der katholischen Kirche.

Ich frage, weil die Obsession mit dem Abgründigen in der österreichischen Kultur ja gerne auf das katholische Erbe des Landes zurückgeführt wird.
Das ist sicher nicht falsch. Wenn man zu viel Religion um sich hat, kann man das ja auch als Gefährdung des geistigen Gleichgewichts empfinden. Ich war immer umgeben von tiefgläubigen Menschen und war ihnen gegenüber auch immer ein bisschen verwirrt, weil ich nicht verstanden habe, wie die funktionieren. Trotzdem habe ich keinen grimmigen Atheismus in mir herangezogen, der das verdammt oder austreiben will. Dieser Glaube hat ja auch faszinierende oder rührende Elemente. Aber ich habe einfach den Kopf nicht dafür. Ich glaube auch nicht an das, was in mir vorgeht.

Diesen Satz haben Sie auch schon mal in einer Besprechung für die «Zeit» geschrieben. Sie möchten, schrieben Sie da, nie ein Autor sein, «der daran glaubt, was in ihm vorgeht».
Den Satz habe ich von Thomas Stangl, aus seinem wunderschönen Buch «Was kommt». Wenn ich zum Beispiel Angst habe, sage ich mir immer: Stimmt ja gar nicht, eigentlich hast du eh keine Angst. Es gibt da immer etwa fünf Zweitstimmen in mir. Wie ein griechischer Chor, der mich darauf hinweist, dass das, was ich gerade empfinde, eigentlich «fake» ist. Vielleicht ist das verbunden mit dem fehlenden Glauben. Weil es den Glauben bei mir nicht gibt, habe ich diesen griechischen Chor im Kopf.

Ich habe nicht gezählt, wie oft es im Roman vorkommt, aber das englische Wort «glitch» scheint ein grosses Lieblingswort von Ihnen zu sein.
Ja, ein schönes Wort. Weil es auch so deutsch klingt, wie glitschig. Glitches sind ja Fehler in der Umsetzung eines Programmcodes, das ist für sich schon eine fruchtbare Metapher für vieles. Wir unterstellen der Welt, sie habe irgendwelche Naturgesetze, das ist wie ein Quellcode, und manchmal schleichen sich da eben Fehler ein: eine Mauer, durch die man hindurchgreifen kann, oder ein Spiegel, durch den man in die Welt dahinter kommt. «Glitch» ist eigentlich einfach ein neuartiger Begriff für die alte Vorstellung, dass es Tapetentüren zum Unheimlichen gibt.

Und dann gibt es die konkreten Glitches in Computerspielen.
Genau. In dem Ballerspiel «Call of Duty» zum Beispiel gibt es Figuren, die weiterreden, nachdem sie erschossen worden sind. Das Programm weiss zwar, dass die Figur tot ist, aber manchmal vergisst es, dass sich ein Gesicht nicht mehr bewegt, wenn der Tod eintritt. Dann liegen diese Figuren tot da und wiederholen in alle Ewigkeit denselben Satz. Das hat eine wunderbare schwarzromantische Strahlkraft. Das fehlt mir in der Literatur: eine reiche, auf Augenhöhe stattfindende Untersuchung von Computerspielen. Nur schon die Tatsache, dass man, wenn man so alt ist wie ich, beim Spielen gefühlt schon 10 000-mal gestorben ist. Ich weiss, es ist nicht der echte Tod, aber das macht ja was mit einem. Immer wieder gestorben zu sein, ist eine der wichtigen frühen Erfahrungen von Menschen meiner Generation.

Wie schreibt man eigentlich einen Tausendseitenroman? Brauchen Sie geregelte Arbeitszeiten?
Ja, ein mönchisches Leben: sehr früh aufstehen mit den Katzen. Während ich das Buch geschrieben habe, war ich sehr krank – nichts Lebensgefährliches, aber etwas, das lange brauchte, um zu heilen. Ich hatte viel Gewicht verloren und war körperlich am Ende, viel mehr als geistige Betätigung ging nicht. Ich habe dann mühsam ein paar Spaziergänge am Tag unternommen, ich hatte mein iPad dabei und habe darauf dieses Buch geschrieben. Das war sicher ein Halt zu der Zeit. Ich höre beim Schreiben auch jeden Tag an einer spannenden Stelle auf. Dann ist es keine Frage, dass ich mich am nächsten Tag wieder hinsetze.

Über Stephen King heisst es im Roman: «Er hatte jeden Tag Ideen, schrieb wie verrückt ganze Nächte durch. Sonst war ihm alles egal.» Eine Idealvorstellung für Sie als Autor?
Früher schon, jetzt nicht mehr. Wenn man krank ist, gibt es ja die Tendenz, sich wegzusperren: sich zu isolieren und zu warten, bis es einem wieder besser geht, und nicht die Leute damit zu belästigen. Die Vorstellung einer Schreibhöhle war damals sicher angenehm. Heute ist das nicht mehr so. Das Schreiben macht einen ja auch kaputt, wenn man körperlich schon nicht der widerstandsfähigste Mensch ist. Das greift einen schon an. Ich hoffe, ich kanns mir ein bisschen abgewöhnen.

Hoffentlich nicht!
Nicht ganz, das wäre zu dramatisch und auch unnötig. Es ist wie mit dem Rauchen: Wenn man von drei Packungen am Tag auf eine runtergeht, geht das viel leichter, als gleich auf null zu reduzieren. So habe ichs jetzt mit dem Schreiben gemacht: Ich habe gewissermassen von fünfzig Packungen am Tag auf eine reduziert. Aber man muss ja niemanden mit diesem Drama belästigen, letztlich ist es mein Problem. Wenn man sich das Schreiben abgewöhnt, wird man auch nicht so gelobt, wie wenn man sich Heroin abgewöhnt: Wunderbar, du bist clean, wir lieben dich dafür. Bei Autoren sagen alle: Er ist halt gescheitert, der arme Mann. Auch irgendwie gemein.

Wie ein Delirium

Sie ist Epileptikerin und Synästhetikerin, sie war mal in einer Sekte, sie findet Trost im Nonsens und macht abartige Dinge mit Sperma: «Ich bin voll geisteskrank», sagt Natalie. «Perfekt für den Job.» Ihr Job: Betreuerin in einem psychiatrischen Wohnheim. Hier gerät sie zwischen die Fronten eines merkwürdigen Arrangements, als sie sich um einen Frauenhasser im Rollstuhl kümmern soll. Dieser, ein verurteilter Stalker, bekommt regelmässig Besuch von seinem Angebeteten, dessen Frau er einst in den Selbstmord getrieben hat.

Ein Stalker wird von seinem Opfer gestalkt: Es ist das epische Nachspiel einer Tragödie, was der 33-jährige Clemens J. Setz («Indigo») in seinem neuen Roman entwirft. Wie ein Psychothriller in Zeitlupe spielt sich das ab: oft sinneserweiternd, manchmal enervierend, jedenfalls stets gefiltert durch diese Borderlinerin namens Natalie, die mit ihrem Blick auf die Welt ihresgleichen in der deutschsprachigen Literatur sucht. Ein Roman wie ein Delirium, ausufernd und hoch konzentriert.

Clemens J. Setz: «Die Stunde zwischen Frau und Gitarre». Suhrkamp Verlag. Berlin 2015. 1021 Seiten. 43 Franken.