Porträt: Ein Leben in ewigen Gedankenketten

Nr. 38 –

Alle merkten, dass sich ein Junge in sie verliebt hatte – nur sie selber nicht. Erst als Iris Köppel 38-jährig war, kam die erlösende Diagnose: Asperger-Syndrom. Heute berät die Pädagogin andere Fachleute – und arbeitet in einem Verlag mit Modellcharakter.

Iris Köppel, Mitarbeiterin im Autismusverlag: «Der grösste Irrtum ist die Vorstellung, dass alle Autisten Zahlengenies sind. Wir haben verschiedene Begabungen wie alle anderen auch.»

Iris Köppel ist eine genaue Erzählerin. Die Fragen beantwortet sie mit Bedachtsamkeit. Über ihre Kindheit sagt sie: «Ich fühlte mich fundamental anders. So anders, dass ich mich manchmal fragte, ob ich wirklich mit meinen Eltern und Brüdern verwandt bin.» Der logische Rückschluss eines Mädchens, das nichts von seiner autistischen Brille weiss.

«Kein Grund zur Sorge»

Die heute 46-Jährige ist im Rheintal der siebziger Jahre aufgewachsen, als ein Hausarzt noch für fast alle Leiden zuständig war. Es sei Ausdruck grosser Ratlosigkeit gewesen, sagt Köppel, «dass mich meine Mutter irgendwann doch zu einem Kinderarzt brachte». – «Kein Grund zur Sorge», teilte dieser den Eltern mit. Zwar sei Iris auffällig still, immerhin aber auch gut in der Schule: ein intelligentes und strebsames Kind, das besonders bei Deutschprüfungen brilliert. Für Köppel aber war diese Diagnose der Beginn eines überfordernden Lebens, dem sie so lange mit Fleiss und Anpassung begegnete, bis es nicht mehr ging.

Über einige Episoden ihrer Jugend lächelt Köppel heute. Ein etwas verschrobener Teenager sei sie gewesen, interessiert vor allem an der Schule und dem Orchester, in dem sie spielte. Doch Kontakte zu anderen Jugendlichen knüpfen? «Ich hatte keine Ahnung, wie man das macht», sagt Köppel. Irgendwann verknallte sich der Kumpel des Bruders in sie. Was allen auffiel – ausser ihr. Verliebt hat sie sich erst Jahre später – in einen Mitbewohner ihrer Bieler Studentenwohnung.

Gesten, Blicke, Berührungen: Für Köppel sind solche Signale ein unlesbares ABC. Ihr Mitbewohner war Inder, die Mutter in Sorge: Ein erwachsener Mann, und dann noch einer aus einem völlig anderen Kulturkreis! Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Köppel gegen die Liebe entschied. «Ohne meine Mutter hätte damals mein Leben nicht funktioniert.»

Nachdem Iris Köppels Vater relativ früh gestorben war, kümmerte sich ihre Mutter tatkräftig um sie. Iris Köppel besuchte das Lehrerseminar. Die Mutter kochte, putzte, organisierte, päppelte auf. Köppel trat ihre erste Stelle als Primarlehrerin an, doch türmten sich die Berge der Anforderungen immer höher vor ihr auf. Ihre Ausprägung des Asperger-Syndroms, eine leichtere Form von Autismus, bringt neben sozialen Schwierigkeiten eine grosse Sensibilität auf äussere Reize mit sich – und eine Störung der Exekutivfunktionen. «Ich kann Handlungen schlecht vorausplanen. Als ich mit einem Schüler ein Bild an der Wand befestigten wollte, nahm ich dazu eine normale Nadel. Das Kind wies mich darauf hin, dass eine Stecknadel besser wäre. Und dann merkte ich nicht, dass man diese erst in die Wand stecken muss, bevor man sie mit dem Hammer einschlägt.»

Dinge wie das mit der Stecknadel merkte sich Köppel fürs nächste Mal. Musste eine Stunde vorbereitet werden, tat sie das penibel. «Ich hatte Angst vor jeder unvorhersehbaren Situation. Also habe ich jede Eventualität einberechnet. Was könnte mir eine Schülerin auf diese Frage antworten? Und wie kann ich darauf reagieren?» Gedankenketten, zu denen wohl nur AutistInnen mit ihrem ausdauernden systematischen Denken fähig sind.

Irgendwann sind Köppels Batterien leer. Sie will weg vom überfordernden Klassenzimmer, zieht in die Bieler WG, die ihre erste Liebe bringen wird, lässt sich zur Rhythmiklehrerin ausbilden, wechselt den Job – und stösst erneut an ihre Grenzen. Es folgen Stationen eines schliesslich totalen Zusammenbruchs: Suizidversuch, Klinik, Therapie, zaghafter Neubeginn in der elterlichen Kleinteilfirma, erneuter Kollaps, Todessehnsucht, Medikamentencocktails. Die Ärzte diagnostizieren alles Mögliche: schwere Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung. Sie versucht, sich zu fangen. Dann stirbt plötzlich die Mutter. Alles geht wieder von vorn los.

Zaghafte Selbstständigkeit

Der Weg aus der Krise beginnt mit einem pädagogischen Weiterbildungskurs: Autismus ist das Thema, und für die damals 38-Jährige ergibt plötzlich alles einen Sinn. Sie sucht eine Psychiaterin auf, lässt sich während einiger Monate diagnostizieren und tritt mit Florian Scherrer in Verbindung – ihrem jetzigen Chef.

Damals arbeitete Scherrer als Coach für Autismusbetroffene. Dabei hatte er immer wieder mit KlientInnen zu tun, die grosse Talente mitbrachten, aber an ihrer Arbeitsumgebung scheiterten. Scherrer gründete darauf in St. Gallen den Autismusverlag, nicht nur, um Fachbücher zum Thema herauszugeben, sondern auch, um geschützte Arbeitsplätze zu schaffen. «Der grösste Irrtum», sagt Köppel, «ist die Vorstellung, dass alle Autisten Zahlengenies sind. Wir haben so unterschiedliche Begabungen wie alle anderen auch.» Doch immer noch konzentrieren sich die wenigen Arbeitsintegrationsprojekte auf die IT-Branche. Zahlen dazu, wie viele Menschen mit Asperger-Syndrom in die Arbeitslosigkeit abrutschen oder nach falschen Diagnosen zu Sozialfällen werden, fehlen.

Der Autismusverlag, in einer St. Galler Parterrewohnung beheimatet, könnte Modellcharakter haben. Für Köppel jedenfalls hat sich das Leben zum Besseren gewendet. Dass sich ihr Chef mit Asperger auskennt, hilft, etwa wenn Köppel ein Buch versandbereit machen muss.

Iris Köppel bezieht heute eine Teil-IV-Rente. Mit den Assistenzbeiträgen kann sie die zusätzliche Betreuung im Verlag sowie eine Haushaltshilfe decken. Das Leben ist übersichtlich geworden. Das ermöglicht Köppel eine zaghafte Selbstständigkeit – nach fast vier Jahrzehnten des Rotierens. Ab und zu steht sie gar wieder vor Klassen – als Expertin. Sie berät zusammen mit Scherrer HeilpädagogInnen, die mit Asperger-Betroffenen arbeiten, gibt Elterntrainings und hält Vorträge. Vor solchen Auftritten konnte Köppel zu Beginn kaum schlafen. Doch es werde langsam besser, sagt sie. «Ich muss jetzt wenigstens keine Rolle mehr spielen.»