Spiderdiagramme: Die Schülerin im Spinnennetz

Nr. 38 –

In Zürcher Schulen macht ein neues Förderinstrument die Runde, das die Kinder dazu bringen soll, ihre Leistungen aus eigenem Antrieb zu steigern.

Mathematik-Spider Grafik: WOZ

Liberal oder konservativ? Staat oder Markt? Ökologisch? Sozial? Nach solchen Kriterien lassen sich PolitikerInnen gern in Spiderdiagramme einspannen, um ihre Gesinnung im Wahlkampf augenfällig zu machen. Das Prinzip ist simpel: Die Wertorientierung wird auf eine Zahlenskala umgemünzt, in eine Excel-Tabelle eingetragen – und schwups, hockt der Politiker im Spinnennetz. Jetzt erobern die Spiderdiagramme auch immer mehr Schulen, zum Beispiel im Zürcher Schulkreis Letzi. Was haben sie dort zu suchen?

«Zeugnisnoten bringen viel zu wenig zum Ausdruck, wie enorm heterogen die Leistungen von Schülerinnen und Schülern sind», sagt der Heilpädagoge Adrian Siegfried, der die Sache mit den Spinnendiagrammen ins Rollen gebracht hat. «Mit dem Spider erhält man eine sehr anschauliche und differenzierte Rückmeldung darüber, wo ein Schüler steht und welchen Förderbedarf er hat.» Ein präziseres Vermessungsinstrument zur Bewertung der SchülerInnen also? Es gehe vor allem darum, die Leistungen der Kinder differenzierter zu erfassen, relativiert Siegfried – als Voraussetzung für das individualisierende Lernen.

Das Spinnennetz vergrössern

Alex Müller, Schulleiter im Zürcher Primarschulhaus Untermoos, ist von der Idee begeistert. Er initiierte im Frühling 2013 ein erstes Spiderprojekt, das mittlerweile immer weitere Bereiche des Unterrichts einspannt: von der Mathematik über Sprachfächer bis hin zum naturwissenschaftlichen Labor. Jede Lehrerin, die mit ihrer Klasse ein Spiderprojekt durchführt, muss in einem ersten Schritt den aktuellen Kenntnisstand jedes Kindes mit einem Test erfassen und in ein Spiderdiagramm umrechnen. Konkret bedeutet das etwa im Fach Mathematik, dass die sechs Bereiche Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren, Dividieren, Bruchrechnen und Orientierung im Zahlenraum das Spinnennetz aufspannen. Darin wird die in jedem Bereich erreichte Punktzahl als Prozentwert eingetragen.

In einem zweiten Schritt bespricht die Lehrerin mit dem Kind sein individuelles Spiderbild. «Dieses Gespräch ist absolut zentral», sagt Müller. Es gehe darum, gemeinsam mit dem Kind herauszufinden, wo es hinwill, was es erreichen will. «Der Spider ist so toll, weil er den Kindern optisch sofort einleuchtet und sie anspornt: Sie wollen ihr Spinnennetz vergrössern.» Klar ist jedoch auch, was damit als Forderung verbunden ist: Das Kind muss seine Leistung steigern.

Im Anschluss an das Gespräch mit dem Lehrer üben die Kinder mit Unterrichtsmaterial in den verschiedenen Bereichen und in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Will sich eine Schülerin im Bruchrechnen und im Dividieren verbessern, stellt der Lehrer gemeinsam mit ihr verschiedene Arbeitsblätter aus dem Unterrichtsmaterial zusammen. Im Verlauf der kommenden Wochen arbeitet dann jedes Kind individuell mit seinem Material, bevor es zu einem zweiten Test kommt, der die Lernfortschritte erfasst. Das Resultat bespricht der Lehrer erneut mit jedem Kind. «Für die allermeisten Kinder bedeutet dies ein sichtbares Erfolgserlebnis», sagt Müller, «die Fläche des Spinnennetzes ist gewachsen.»

Der Spider soll so mehr als Mittel zum Zweck sein – mit ihm versucht man, den Fokus des Unterrichts noch stärker auf die Individualität jedes Kindes zu richten. «Der Spider macht jedem Kind seine eigenen Stärken bewusst und baut auf diesen auf», sagt Müller. «Das motiviert zum Lernen.» Während in andern Schulhäusern der Spider dazu benutzt wird, die SchülerInnen in Mathematik in verschiedene Niveaugruppen zu unterteilen und klassenübergreifend in jeweils der gleichen Niveaustufe zu unterrichten, will man im Untermoos die Kategorisierung in «gute» und «schlechte» SchülerInnen durchbrechen. Alle SchülerInnen eines Jahrgangs sollen schon bald zur selben Zeit Mathematik oder Sprache haben und bunt gemischt mit ihrem je individuellen Material arbeiten.

Die Lehrerin als Coach

«Die Lehrerinnen und Lehrer müssen aus ihrem alten Rollenverständnis herauskommen», bringt Müller die wohl grösste Herausforderung des Projekts auf den Punkt. «Sie sind nicht mehr länger Wissensvermittler, sondern sollen immer mehr die Rolle eines Coachs übernehmen, der jedes einzelne Kind in seiner Wissensaneignung unterstützt.» Der Austausch mit den LehrerInnen rund um das Projekt sei intensiv, sagt er. Der mit dem Projekt verbundene Zusatzaufwand für die LehrerInnen ist in der noch laufenden Pilotphase enorm hoch: Nebst den zahlreichen Einzelgesprächen müssen sie für jedes Fach in den verschiedenen Themenbereichen passendes Übungsmaterial sowie Lösungsblätter dazu erarbeiten – und dies für verschiedene Schwierigkeitsgrade. Zudem müssen sie eine genaue Projektdokumentation anlegen, inklusive Feedback der SchülerInnen. «Der Initialaufwand ist gross», ist sich Müller bewusst. «Aber nur so lange, bis die verschiedenen Unterrichtsmaterialien digitalisiert sind und allen Lehrern zur Verfügung stehen.»

Gefordert sind aber auch die Kinder, wenn sie selbstständig und losgelöst vom Klassenverband an ihren Aufgaben arbeiten und diese auch selber korrigieren müssen. Noch schaffen es nicht alle, sich selbst zu motivieren, wie Müller einräumt. Der Weg dorthin führe über das gemeinsame Gespräch zwischen LehrerIn und SchülerIn. «Das höchste aller Gefühle wäre, wenn in diesem Prozess das Kind irgendwann so weit ist, dass es selber sagt, wann es für den zweiten Test parat ist.»

In der Praxis bleibt der Leistungsdruck für die Kinder aber bestehen – ja, er soll mithilfe des Spiders von ihnen sogar verinnerlicht werden. «Der Spider ist keine Patentlösung für alles, aber er ist etwas vom Besten, das ich kenne», sagt Adrian Siegfried. Und fügt an: «Er darf einfach nicht als neues Selektionsinstrument missbraucht werden.»