Kommentar zur Schweizer Asylpraxis: Den Paragrafenzombie schamlos ausnutzen

Nr. 42 –

Die Schweiz schickt weiter Flüchtlinge nach Italien – selbst solche, die nie dort waren. Das klappt nur wegen der Überforderung Italiens.

Alles schaut derzeit auf Deutschland, wo täglich Tausende von Flüchtlingen ankommen. Was in Italien los ist, scheint kaum mehr zu interessieren. Dabei ist die dortige Lage weiterhin prekär: Täglich landen neue Menschen mit ihren Booten an der Küste, viele Flüchtlinge leben auf der Strasse, die Behörden sind nicht fähig, alle Ankommenden zu versorgen, geschweige denn zu registrieren und in den Asylprozess aufzunehmen. Diese Einschätzung teilt auch das eidgenössische Staatssekretariat für Migration (SEM): Aufgrund des Migrationsdrucks auf die Küsten sei das italienische Asyl- und Aufnahmesystem überlastet; Italien sehe sich zeitweise nicht in der Lage, «alle Aufgaben im Rahmen von Schengen/Dublin vollumfänglich zu erfüllen».

Die Schweiz nutzt diese Überlastung zu ihren Gunsten aus: Gemäss Dublin-Abkommen ist es einem Vertragsstaat erlaubt, Asylsuchende in ein anderes Land auszuweisen, auch wenn sie dort nie registriert wurden. Allerdings müssen die Schweizer Behörden beweisen können, dass die Person über ebenjenes Land, also zum Beispiel über Italien, eingereist ist – etwa mit einem italienischen Zugbillett oder mit einem Auszug aus einem Krankenhausregister. Das SEM stellt jedoch auch Rückübernahmeanfragen, wenn lediglich Indizien darauf hinweisen, dass der betreffende Flüchtling über Italien eingereist ist – etwa wenn jemand in der Befragung durch das SEM dies so angibt. Das bestätigen der WOZ verschiedene Rechtsberatungsstellen, und auch das SEM will dies nicht dementieren.

Nun kann Italien diese Anfrage zwar abweisen. Doch angesichts der Überlastung der Behörden reagierte Italien oft nicht fristgemäss auf solche Anfragen und laut Angaben der Rechtsberatungsstellen seit August überhaupt nicht mehr. Gemäss Dublin-Abkommen kommt dies einer stillschweigenden Annahme gleich. Das SEM stellt weiter munter Rückübernahmeanfragen an das südliche Nachbarland mit der Begründung, das Dublin-Abkommen lediglich konsequent anzuwenden. So wird es praktisch garantiert Flüchtlinge los, obwohl keine Beweise für deren Einreise über Italien vorliegen.

Die Praxis der Schweiz ist zwar legal, doch sie ist heuchlerisch. SP-Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga rief erst vor kurzem zu Solidarität mit den Ländern an der EU-Aussengrenze auf. Sie gab sich grossherzig, indem sie sich bereit erklärte, im Rahmen der EU-weiten Umverteilungsaktion 1500 Flüchtlinge aus diesen Ländern aufzunehmen, um sie zu entlasten (siehe WOZ Nr. 40/2015 ). Gleichzeitig werden Menschen nach Italien ausgeschafft, die im Rahmen der grossen Umsiedlung wieder in ein anderes Land gebracht werden sollen – möglicherweise gar zurück in die Schweiz. Solidarität mit überlasteten Nachbarstaaten sieht anders aus. Solidarität mit Flüchtlingen sowieso.

Das Dublin-Abkommen ist nurmehr ein Paragrafenzombie; Griechenland, Ungarn und Italien lassen Flüchtlinge schon seit langem unregistriert weiterziehen. Die deutsche Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat kürzlich beschlossen, vorläufig sämtliche syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, die es bis über die Grenze schaffen, anstatt sie in das europäische Land zurückzuschicken, das sie zuerst betreten haben. Die Schweiz könnte dasselbe tun – auch für EritreerInnen, die in der Schweiz die grösste Flüchtlingsgruppe ausmachen (vgl. «Wir haben ein Monster geboren» ). Das wäre ein erster Schritt zu einer humanen Flüchtlingspolitik.

Stattdessen klammert sich der Bund bis heute krampfhaft ans Dublin-Abkommen und profitiert von der Überlastung Italiens, um Flüchtlinge weiter ausschaffen zu können. Mit der konsequenten Umsetzung des Indizienverfahrens greift der Bund im Fall von Italien der angekündigten SVP-Initiative vor, die verlangt, dass nur noch ein Asylgesuch stellen darf, wer mit dem Flugzeug in die Schweiz einreist, und die das Asylrecht damit faktisch abschafft.