«Liquid Crystal Display»: Der Mann, der die Oper wieder gesellschaftlich relevant machen will

Nr. 42 –

Nah an der Lebensrealität: In der neuen Oper des Zürcher Komponisten Daniel Mouthon geht es um Social Media, Sekten und gefälschte Medienbilder. Das ist Kunst, die sich einmischen will.

Daniel Mouthon, Komponist und Sänger.

Liebe und Tod: Die beiden grossen Leidenschaften gelten gemeinhin als Hauptmotive in klassischen Opern. Eher im Hintergrund, aber durchaus bedeutend geht es auch um Macht, Machterhalt, Machtkalkül – und um die Medialität dieser Macht. Und das ist hochaktuell. Er verstehe, so sagt der Zürcher Komponist Daniel Mouthon, die Oper durchaus als ein «Kraftwerk der Leidenschaften», wie es einmal Alexander Kluge formulierte, aber er wolle diese so elitäre Kunstform näher an unsere Lebensrealität heranführen.

So geht es in seiner neuen Oper «Liquid Crystal Display» um einen Staatspräsidenten und eine sektenartige Volksbewegung, um institutionalisierte Medien und offene Social Media, um Intrigen und gefälschte Medienbilder. Persönlichkeiten, wie wir sie aus den Nachrichten kennen, spiegeln sich in den Figuren. Tatsächlich: Es ist ein Plot, der der Oper gut ansteht – und der dennoch aus unserer Zeit heraus spricht, denn Mouthon bringt Musiktheater und moderne Lebenswelt zusammen und stellt in der Oper Fragen, die viele Leute angehen.

Kein typischer Opernkomponist

Kunst soll sich einmischen, diskursiv, aber auch auf sinnliche Weise. «Liquid Crystal Display» ist so eine Parabel auf eine Demokratie, die sich im Zeitalter der totalen Medialisierung verändert – auf zuweilen prekäre Weise. Und das nun also in der Form der Oper: Es gibt einen Librettisten (den Zürcher Schriftsteller und Journalisten Daniel Suter), einen Regisseur (Stefan Nolte), wenn auch kein Bühnenbild, so doch einen Videoraum (Videos: Georg Lendorff) – und ein regelrechtes Ensemble von zwei Sängerinnen und drei Sängern. Die Partitur ist von A bis Z ausnotiert, es bleibt wenig Raum für Improvisation. Dazu spielt das von Sebastian Gottschick geleitete Ensemble für Neue Musik Zürich.

Mouthon selber wirkt nicht mit, sondern fungiert als Produktionsleiter im Hintergrund. Dies macht «Liquid Crystal Display» zu einer Ausnahme in seinem Schaffen. Daniel Mouthon nämlich, der Sänger und Improvisator, der in den achtziger Jahren durch seine akrobatischen Stimmkünste bekannt wurde, ist kein typischer Opernkomponist. Die Stücke, die er in den letzten dreissig Jahren in schöner Regelmässigkeit vorlegte, würde man eher allgemeiner unter den Begriff «Musiktheater» fassen. Eigen ist ihnen die diskursive Auseinandersetzung mit dem Text und ihrer Theorie, mit der Kunst ganz allgemein. Im Zentrum standen so zum Beispiel James Joyce oder Marcel Duchamp – im kommenden Jahr wird er sich zum Hundertjahrjubiläum mit Dada beschäftigen.

Die Differenz im Rauschen

Dabei gelingen ihm immer wieder ungewöhnlich beziehungsreiche Stücke, am aufwendigsten bislang wohl das Marcel-Duchamp-Projekt «Air à l’Enverre» (1997), das Mouthon zusammen mit dem Autor und Schlagzeuger Dieter Ulrich verwirklichte. Einfacher und «alltäglicher» in der Anlage war «interview mit köstlichen» (1999). Der gesprochene Text basierte auf Interviews mit elf Personen aus der Schweiz, unter anderen erzählten ein Mädchen, ein Schlosser, eine Kosmetikerin und ein Kantonsrat dabei ihre Geschichten. Hinzu kamen theoretische Texte von Ludwig Wittgenstein, Niklas Luhmann und Michel Serres. Die Kompilation, zunächst nur eine undeutliche Textassemblage, mal witzig, mal banal, spannte ein immer dichteres Beziehungsnetz und liess dabei auch Zweifel aufkommen über den eigenen Sinn, reflektierte sich also ständig selber. Sie zeigte ein System und darin die Differenz. Die Aussagen verschwanden im allgemeinen Rauschen und blieben doch in ihrer Individualität bestehen. So ergab sich ein Bild des Menschen von heute, der sich fragt: «Welche Beziehungen bestehen zwischen uns? Wie leben wir zusammen?» Die Musik, aus Traditionspartikeln gefetzt, zugänglich und sich doch entziehend, schuf dazu ein «sinnlich erfahrbares Gelände» mit Schräglage und in ständiger Relativierung.

Der Künstler als Kommunikator

Vielleicht sollte man die Rolle des Komponisten hier nicht als die eines einsam arbeitenden Künstlers, sondern als die eines Kommunikators verstehen. Es sind Ansätze, die von einer jüngeren KomponistInnengeneration inzwischen weiterverfolgt werden. Sie begnügen sich nicht mehr mit dem Töneschreiben, sondern wollen eine Diskussion über Kunst und ihre Rolle in der Welt auslösen, so etwa der Zürcher Komponist Patrick Frank, dessen neues Projekt «Freiheit – die eutopische Gesellschaft» demnächst bei den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt wird. Mouthon verfolgt diese Entwicklung sehr genau.

Mit seinen Produktionen nimmt er sich manchmal fast verschämt zurück, wird Teil eines Kollektivs, in dem Text, Musik, szenische Arbeit und Ensemble gleichwertig scheinen. Er liebt daran die Laborsituation. Improvisationen sind ebenso zugelassen wie Beiträge anderer KomponistInnen. Sein Arbeitsfeld ist offen. Die Stücke werden allmählich entwickelt. Manchmal verlassen er und seine MitmusikerInnen dabei die gewohnte Umgebung. Sie gehen in den Alltag hinaus, improvisieren musikalische Szenen in einem Café oder im Tram, stören die Kontexte auf – Oper für jedermann. Denn Mouthon ist überzeugt: Der künstlerische Gesang, den manche als gekünstelt empfinden, vermag eben gerade die Emotionen und Leidenschaften zu überhöhen; er äussert, was tief drinnen im Menschen steckt und dort vielleicht verborgen bliebe. Musik ist ein Auslöser. «Duchamp sagte: Das Kunstwerk entsteht im Kopf, im Ohr der Zuhörenden. Konsequenterweise muss man weiter fragen: Wie ist das Partizipieren der Hörer möglich? Ich beobachte in den letzten Jahren, dass das Dokumentarische – nach der grossen Lustigkeit der Jahrtausendwende – wieder bedeutender wird: eine gewisse Realitäts- oder Alltagsnähe. Welche Rolle hat dabei die Kunst, wie politisch kann sie sein?», fragt sich Mouthon.

Das Utopische ist zentral

Das Utopische im Musiktheater ist deshalb für ihn von zentraler Bedeutung: Nicht als etwas Abgehobenes, sondern als etwas Zugängliches. «Es gab doch früher auf den Jahrmärkten solche Flugzeuge, bei denen man den Kopf reinstecken und sich inszenieren konnte. Dieses Bild – als grosse Vereinfachung – ist mir immer vor Augen: Jemand steigt in ein Preset hinein und spielt gleichsam in seiner eigenen Oper. So könnte man eine Oper – sagen wir – für eine Firmenbelegschaft machen. Diese Art vorgegebenen Rahmen liefert der Komponist.» Mouthon nennt das ein moderierendes Komponieren, es sei etwas, das ihn locke: «Jemand kann sich mit der Schreibhilfe des Komponisten in ein Werk einschreiben. Der Komponist ist dabei mehr als nur Fürsprecher für alltägliche Menschen, er wird zum Dolmetscher.»

Und so fragt Mouthon immer wieder: «Was sind die Begegnungsorte, die Schnittstellen von Komposition, Poesie und Alltag?» Durch diese könnte eine zeitgenössische Musik auch wieder gesellschaftliche Relevanz erlangen.

«Liquid Crystal Display» wird aufgeführt in 
Zürich im Kirchgemeindehaus Hottingen am 
17., 18., 21., 22. und 23. Oktober 2015. 
www.liquid-crystal-display.ch