Kultour

Nr. 43 –

Ausstellung

Von der Theologie zur Fotografie

Nach Basel kam die 1917 in Berlin geborene Maria Netter im Jahr 1936, um beim berühmten Karl Barth Theologie zu studieren. Dies und ihr Engagement in der Bekenntniskirche sollen ihr jüdisches Elternhaus ziemlich vor den Kopf gestossen haben. Doch bald scheinen sich ihre Interessen verschoben zu haben, und sie besuchte stattdessen kunsthistorische Vorlesungen.

Wer heute im Netz nach der 1982 verstorbenen Kunsthistorikerin und Fotografin sucht, die in den siebziger Jahren auch zum Gründungsteam der Kunstmesse Art Basel gehörte, findet nur ganz wenige Texte mit ein paar knappen biografischen Angaben. Gleichzeitig stösst man aber auf eine Fülle von fotografischen Porträts, darunter auch solche des Theologieprofessors Karl Barth.

Annja Müller-Alsbachs Ausstellung im Basler Museum Tinguely und die begleitende Publikation von Bettina von Meyenburg-Campell und Rudolf Koella sind deshalb eine ideale Gelegenheit, Ausführlicheres über die umtriebige Fotografin und Kunstkritikerin zu erfahren. Die BuchautorInnen nennen Etter pointiert eine «Augenzeugin der Moderne», die nicht nur als Kunstkritikerin die stetig wachsenden Museumssammlungen und die Kunstszene Basels begleitete. Als Autodidaktin hat sie mit ihrer Leica-Kleinbildkamera die eigenen Texte auch gleich selber illustriert – unter anderem mit Porträts von zahlreichen grossen KünstlerInnen der Nachkriegszeit, von Joseph Beuys über Niki de Saint Phalle bis zu Alberto Giacometti.

«Maria Netter – Kunstkritikerin und Fotografin» in: Basel Museum Tinguely. Ausstellungsvernissage und Buchpräsentation: Di, 27. Oktober 2015, 18.30 Uhr. Ausstellungsdauer: 28. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016. Das Buch «Augenzeugin der Moderne 1945–1975: Maria Netter, Kunstkritikerin und Fotografin» erscheint im Schwabe Verlag Basel.

Daniela Janser

Theater

U purpu – der Krake

Vito ist unheilbar krank, aber er darf es nicht erfahren. Das ist nicht die einzige Lüge im Leben des alten Sizilianers, der nach Jahren in der Schweiz in seine Heimat zurückgekehrt ist. Hier hält er mit seiner zweiten Frau und deren beiden Schwestern die Fassade des traditionellen Patriarchats aufrecht. Die in der Schweiz lebende Tochter Angela besucht den Sterbenskranken; sie will einiges klären und den Vater mit seinem überkommenen Rollenbild und seiner Lebenslüge konfrontieren. Doch zunächst bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als das tragikomische Theater der älteren Frauen mitzuspielen.

Letizia Fiorenza, Sängerin mit sizilianischen Wurzeln und Seconda in der Schweiz, hat mit «U purpu» der Zerrissenheit einer Generation von Aus- und RückwanderInnen Ausdruck verliehen. Ein junges Ensemble setzt die komplexe Thematik auf der Bühne mit mehrsprachigem Text, einer bewegten Dramaturgie und viel Musik um; der Chor mit seinen Liedern aus den Fünfzigern und Sechzigern dient dabei als zurechtrückende ironische Instanz. Der Krake (Sizilianisch: purpu) ist Sinnbild vor allem für die Sturheit von Vater und Tochter. fi

«U purpu. Leben und Sterben des Vito Schirò» in: Uster Central, Brauereistrasse 2, Fr, 23. Oktober 2015 (Uraufführung), und Sa, 24. Oktober 2015, jeweils 20 Uhr; Zürich Theater Stok, Mi–Sa, 28.–31. Oktober 2015, 20 Uhr, 1. November 2015, 17 Uhr. Produktion: Ensemble Fiorenza, www.adelheid.ch.

Jürg Fischer

Geschichte

Die Schweiz als Ernstfall

Die Schweiz sei in der Geschichte weder das unschuldige Opfer der Torheit der Grossen noch eine unbedeutende Akteurin in einem Umfeld von Mächtigen, schreibt der Historiker Jakob Tanner in der Einleitung zu seiner kürzlich erschienenen Geschichte zur Schweiz im 20. Jahrhundert. «Vielmehr entwickelte sie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts in verschiedener Hinsicht die Fähigkeit, sich in internationalen Beziehungen, in transnationalen Kooperationsstrukturen und innerhalb weltwirtschaftlicher Verflechtungen zu profilieren und davon zu profitieren.» Diesem Blick über die Grenzen, der die Geschichte eines Staats nicht nur aus sich selbst heraus verstehen will, folgt denn auch Tanners Buch. Unter dem schönen, aus dem militärischen Jargon übernommenen Titel «Die Schweiz als Ernstfall» diskutiert er nun seine Forschungsergebnisse mit den Kolleginnen Sibylle Marti von der Universität Zürich, Caroline Arni von der Universität Basel und SRG-Generaldirektor Roger de Weck. Das Gespräch leitet ETH-Geschichtsprofessor David Gugerli.

«Die Schweiz als Ernstfall» in: Zürich ETH, Auditorium F3 im Hauptgebäude, Mo, 26. Oktober 2015, 18.30 Uhr. www.tg.ethz.ch

Kaspar Surber

Theater

Vom Giftschrank auf die Bühne

Adolf Hitlers «Mein Kampf» aufbereitet als Theater, wie soll das gehen? Die Theatergruppe Rimini Protokoll versucht in ihrem neuen Stück, den Mythen hinter der 12,5 Millionen Mal aufgelegten historischen Hetzschrift auf die Spur zu kommen. Gefragt wird «Was steht darin überhaupt geschrieben?» und «Geht Gefahr davon aus?». Rimini Protokoll hat in den letzten Jahren von Marx’ «Das Kapital» über «Situation Rooms» bis zur Weltklimakonferenz diverse heisse Eisen einer Behandlung auf offener Bühne unterzogen. Auch beim Zürcher Gastspiel des im September in Weimar uraufgeführten Stücks «Mein Kampf, Band 1 & 2» kreisen wiederum Expertinnen und betroffene Laien das Phänomen der in Deutschland vorläufig immer noch verbotenen Kampfschrift möglichst facettenreich ein. Der israelische Jurist Alon Kraus, dessen Vorfahren von Hitlers Schergen ermordet worden waren, kommt dabei zum trockenen provisorischen Schluss: «Es gibt besser geschriebene antisemitische Sachen.»

Der von Helgard Haug und Daniel Wetzel konzipierte Theaterabend, in dem recherchierte Hintergründe, Biografisches und Fachwissen zum berühmten «postdramatischen» Rimini-Mix zusammenschiessen, ist nicht zuletzt als Vorbereitung auf den Moment gedacht, wenn Ende 2015 die vom Freistaat Bayern verwalteten Urheberrechte von «Mein Kampf» auslaufen. Und vielleicht lohnt er sich sogar für die vielen Fans des norwegischen Autors Karl Ove Knausgard, dem es bekanntlich gefiel, sein autobiografisches Projekt ebenfalls mit «Mein Kampf» zu überschreiben.

«Mein Kampf, Band 1 & 2» in: Zürich Gessnerallee, Sa/So, 24./25. Oktober 2015, 20 Uhr. 
Anschliessend Diskussion mit dem Publikum. 
www.gessnerallee.ch

Daniela Janser

Literatur

Mariella Mehr

Gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit: Autorin Mariella Mehr steht im Zentrum einer Soirée in Bern. Foto: Ursula Häne

Die 1947 geborene Mariella Mehr begann in den siebziger Jahren, Texte zu schreiben, in denen sie sich gegen Diffamierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus engagiert. Sie spricht aus Erfahrung: Ihre Mutter war als Kind von der Pro-Juventute-Stiftung im Zuge der Aktion «Kinder der Landstrasse» ihren jenischen Eltern entrissen worden. Auch Mehr wurde durch die Pro Juventute in ein Heim eingewiesen. Immer wieder setzte sie sich schriftstellerisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinander und hielt in Romanen wie «Steinzeit» (1981), «Daskind» (1995) oder «Angeklagt» (2002) den Nichtjenischen einen Spiegel vor. Eine Soirée in der Nationalbibliothek ermöglicht nun einen vielseitigen Einblick in das Archiv von Mehr: Die Autorin Melinda Nadj Abonji und der Perkussionist Balts Nill nähern sich über die Musik ihrem Werk an, die Literaturwissenschaftlerin Beate Eder-Jordan und der Literaturkritiker und Lyrikexperte Martin Zingg halten Vorträge zu Mehrs Prosa und Lyrik. Zudem sind in einer kleinen Ausstellung ausgewählte Dokumente aus dem Archiv zu sehen.

«Eine Geschichte. Meine Geschichte. Mein ganzes Leben», Dokumente aus dem Archiv von Mariella Mehr in: Bern Schweizerische Nationalbibliothek, Mi, 28. Oktober 2015, 18 Uhr. www.nb.admin.ch

Silvia Süess

Anarchie!

«In jeder Tasche eine Bombe, angefüllt mit Dynamit, den Mordstrahl in der einen, die Brandfackel in der anderen Hand – so stellt sich ein Gegner des Anarchismus in der Regel einen Anarchisten vor.» Mit diesem Zitat, das vom Anarcho-kommunisten Johann Most aus dem Jahr 1889 stammt, beginnt die Einleitung von Nino Kühnis’ Buch «Anarchisten! Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen. Zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz 1885–1914». In seinem fast 600-seitigen Buch untersucht der Autor auf der Basis von Schweizer Zeitungen die Gestalt und Gestaltung der zugeschriebenen und bewegungseigenen kollektiven Identitäten und die Diskrepanz zwischen ihnen. Kühnis, der ab und zu auch für die WOZ geschrieben hatte, ist vor zwei Jahren tragisch verunglückt. Sein Buch ist im Frühling erschienen. An einer verspäteten Buchvernissage im Schweizerischen Sozialarchiv diskutieren nun die Kulturwissenschaftlerin Ina Boesch, der Kommunikationswissenschaftler Mike Meissner und die Historikerin Béatrice Ziegler aus unterschiedlichen Perspektiven über den Anarchismus.

«Anarchisten!», Buchvernissage in: 
Zürich Sozialarchiv, Do, 29. Oktober 2015, 19 Uhr. 
www.sozialarchiv.ch

«Augenzeugin der Moderne»: Eine Ausstellung in Basel widmet sich der bislang wenig bekannten ­Kunsthistorikerin und Fotografin Maria Netter. Foto: Maria Netter, SIK-ISEA, Zürich

Silvia Süess