«Operation Transit»: Spionagebefehl aus dem Kanzleramt

Nr. 43 –

Neue Dokumente untermauern den Vorwurf, dass deutsche und US-amerikanische Geheimdienste auch Schweizer Kabelleitungen abhörten. Die Justiz bleibt untätig, Nachforschungen betreibt ausgerechnet der Schweizer Geheimdienst.

Ein Knall, dann herrschte Stille. Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seit Peter Pilz, Abgeordneter der Grünen im österreichischen Nationalrat, gemeinsam mit seinen Schweizer ParteikollegInnen Balthasar Glättli und Regula Rytz in Bern vor die Medien trat. Die Botschaft, die sie verbreiteten, war beunruhigend: Der US-amerikanische Geheimdienst NSA hatte gemeinsam mit dem deutschen Auslandsgeheimdienst BND während Jahren Kabelleitungen der Swisscom angezapft und so auch Telefongespräche und Internetverkehr aus der Schweiz überwacht. Damit war die deutsch-amerikanische Spionageaffäre, die seit zwei Jahren regelmässig für aufgeregte Debatten in Deutschland sorgt, in der Schweiz angekommen.

Pilz tourte mit seinen Erkenntnissen durch Europa: Wien, Berlin, Amsterdam, Paris, Bern. Heute sagt er, dass damals nur ein Anfangsverdacht bestanden habe, belegt mit einzelnen Dokumenten. Seither hat sich Pilz weitere Unterlagen beschafft, um den Vorwurf der jahrelangen Überwachung europäischer BürgerInnen zu bekräftigen. Woher, das behält er für sich. Doch heute verfüge er über «etwa zehnmal so viele Dokumente» wie im Frühsommer. Aus dem Anfangsverdacht sei «eine Beweiskette» entstanden.

Schweizer Geheimdienst in Wien

Dabei schien nach Pilz’ Auftritt in Bern alles schnell wieder seinen gewohnten Gang zu nehmen. Statt Aufklärung folgte Beschwichtigung: Die Swisscom wiegelte ab, man habe keine Hinweise, dass sich der deutsche Geheimdienst Zugang zu ihren Netzen verschafft habe. Das schweizerisch-belgische Joint-Venture-Unternehmen Bics, das die grenzüberschreitenden Kabelleitungen gemeinsam mit der Swisscom betreibt, berief sich auf das Geschäftsgeheimnis und lehnte es ab, irgendeine Frage zum Thema zu beantworten. Die Bundesanwaltschaft lavierte, die veröffentlichten Unterlagen böten keinen begründeten Anfangsverdacht für Ermittlungen. Der Bundesrat wischte eine parlamentarische Anfrage salopp mit einem Werbespot für das neue Geheimdienstgesetz NDG vom Tisch.

Die Sache war vorerst erledigt. Die Politik ging zur Tagesordnung über. Das Parlament verabschiedete das neue NDG, das den GeheimdienstlerInnen noch mehr Kompetenzen erteilt, unter anderem auch das umstrittene Anzapfen von Kabelleitungen und Cyberangriffe auf ausländische Kommunikationssysteme.

Nur eine Schweizer Behörde liess die Sache nicht ganz auf sich beruhen. Erstaunlicherweise war es aber nicht die Justiz, die sich um den Fall kümmerte. Ausgerechnet der Schweizer Geheimdienst NDB delegierte zwei Agenten ab, um Peter Pilz in Wien zu treffen. Pilz teilte seine Unterlagen mit den «zwei Herren des NDB» – er hatte schon früher seine Bereitschaft angekündigt, in dieser Sache mit Behörden zusammenzuarbeiten.

Der NDB bestätigt das Treffen und den Erhalt der Dokumente, allerdings hätten die Informationen «keine neuen Hinweise auf gegen die Schweiz gerichtete Aufklärungstätigkeiten» ergeben. Auch die Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments (GPDel) ist über das Treffen informiert, wie Präsident Paul Niederberger auf Anfrage sagt.

Ein neuer Schatz

Peter Pilz steht in seinem Büro in der Nähe des Wiener Burgtheaters, zieht eine rote Mappe aus einem Schrank und legt sie auf den Tisch. Es ist ein kleiner Schatz, den er da hütet. Darin schlummern die Dutzenden streng geheimen Dokumente, die er in den letzten Monaten gesammelt hat: interne E-Mails der deutschen Telekom, Unterlagen des deutschen Geheimdienstes BND und – als Kernstück – ein Brief aus dem deutschen Bundeskanzleramt. Pilz bezeichnet ihn als «Spionagebefehl».

Pilz lässt keine Missverständnisse um seinen neuen Schatz aufkommen: Keine Kopien, keine Abschriften – die WOZ darf die Dokumente bloss einsehen. In diesen Tagen will Pilz die Auswertung der Unterlagen abschliessen. Demnächst will er sie der Öffentlichkeit vorstellen. Er sagt: «Das sind die Belege für das weltweit erste Programm zur Massenüberwachung gewöhnlicher Bürger in ganz Europa. Der Fall ‹Operation Transit› ist jetzt durchgehend dokumentiert.»

Die vertraulichen Unterlagen und die öffentlichen Zeugenaussagen im deutschen NSA-Untersuchungsausschuss zeigen, wie deutsche und US-amerikanische GeheimdienstlerInnen vorgingen, um die Telekommunikation in ganz Europa abzufangen und gemeinsam auszuwerten. Sie erlauben einen seltenen Einblick in die verschwiegene Welt der Geheimdienste.

Die «Operation Transit»

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York beginnt ein neues Zeitalter: Nachdem die Geheimdienste eklatant versagt haben, werden sie weltweit verstärkt. Sie vertiefen Kontakte, bauen die Zusammenarbeit mit anderen Diensten aus, die Politik erweitert ihre Kompetenzen massiv.

In diese Ära fällt auch ein Abkommen zwischen dem deutschen BND und der US-amerikanischen NSA: Am 28. April 2002 unterzeichnen die beiden Geheimdienstchefs ein Memorandum of Agreement, wie der Rechercheverbund von WDR, NDR und «Süddeutscher Zeitung» im Herbst 2014 aufdeckte. Darin vereinbaren sie, dass die beiden Dienste künftig abgefangene Daten gemeinsam in der Abhörstation im deutschen Bad Aibling auswerten. Die gemeinsame Operation von NSA und BND erhält das Codewort «Eikonal».

2003 beginnt der BND damit, Daten aus dem Internetknotenpunkt Frankfurt abzuleiten. In Frankfurt kommen zahlreiche Kabelleitungen aus ganz Europa zusammen, über die Telefon- und Internetverkehr fliessen. Darunter auch Leitungen aus der Schweiz, wie Pilz’ Unterlagen zeigen.

Bei der deutschen Telekom, die den Knotenpunkt im Westen Frankfurts betreibt, gibt es offenbar Zweifel an der Rechtmässigkeit dieser Ableitungen durch den deutschen Geheimdienst. Die Bedenken werden vom Geheimdienstkoordinator des Bundeskanzleramts in einem Brief vom 30. Dezember 2003 ausgeräumt: Die Überwachungen würden «im gesetzlichen Rahmen» stattfinden. Der Brief ist eine Beruhigungspille von höchster Stelle. Er besiegelt gleichzeitig die massenhafte Ausforschung europäischer Kabelleitungen.

Das ist das Schreiben, das Pilz als «den Spionagebefehl aus dem Kanzleramt» bezeichnet: Es belegt, dass das Anzapfen Hunderter europäischer Telekommunikationskabel in den folgenden Jahren von höchster Stelle in Deutschland abgesegnet worden war.

«Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.» So drückte es die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2013 aus, als bekannt wurde, dass US-Geheimdienste ihr Handy abgehört hatten. Offenbar taten die deutschen Dienste aber genau dasselbe – mit ausdrücklicher Billigung des Kanzleramts.

Im Jahr 2004 schliesst der BND einen Vertrag mit der deutschen Telekom, der die Details der Kabelüberwachung regelt. «Geschäftsbesorgungsvertrag Transit» lautet der Titel des scheinbar unverfänglichen Abkommens. Es legt den Grundstein für die massenhafte Überwachung von Privatpersonen. 6500 Euro im Monat erhält die Telekom als Abgeltung. Dafür verpflichtet sie sich, «kabelgestützte leitungs- und paketvermittelte Fernmeldeverkehre, die ihren Ursprung und ihr Ziel nicht in der Bundesrepublik Deutschland haben (‹Transit›), aufzuklären». Also auch den Verkehr aus der Schweiz.

Gemäss Pilz’ Unterlagen beginnen am 9. März 2004 die internen Vorbereitungen für die «Operation Transit» (diesen Namen verwenden die deutschen ParlamentarierInnen im NSA-Untersuchungsausschuss, dieselbe Operation wird aber auch unter den Namen «Eikonal» und «Granat» gehandelt). Ab dem 3. Februar 2005 läuft die Abhöraktion mit voller Kraft. Wie aus den Dokumenten hervorgeht, werden die Zuschaltungen am Knotenpunkt Ffm 21 vorgenommen, einer Datenschnittstelle in Frankfurt-Nied. Die Zuschaltungen erfolgen über einen sogenannten koaxialen Messentkoppler (in den Papieren «Komeko» genannt), also über eine Abzweigung, die den Datenverkehr kopiert und an die Geheimdienste weiterleitet.

Betroffen sind anfangs nur die leistungsschwächsten Datenkabel, über die fast ausschliesslich Telefongespräche laufen. Mit der Zeit kommen allerdings auch schnellere Datenleitungen dazu. Die NSA, die seit 2002 mit dem BND eine gemeinsame Abhörstation in Bad Aibling unterhält (Joint Sigint Activity), erstellt eine Liste der Kabelleitungen, die mit Vorrang anzuzapfen sind – die Prioritätenliste der NSA. Pilz hat auch dazu Beweise, einen Bund Papiere, auf denen Dutzende Zeilen mit Städtenamen gelb angestrichen sind: 255 Leitungen aus 31 Ländern – neun davon sind Swisscom-Leitungen und haben Ziel- oder Endpunkt in der Schweiz.

Was waren die Ziele?

Die dokumentierte amerikanisch-deutsche Abhöraktion liegt einige Jahre zurück, die «Operation Transit» lief um das Jahr 2008 aus. Belanglos ist die Affäre trotzdem nicht. Denn es steht ausser Frage, dass es Nachfolgeprojekte gibt.

Die grosse Ungewissheit bleibt bestehen: Wozu wurden die Leitungen angezapft? Welches waren die abgehörten Ziele? Standen auch SchweizerInnen unter gezielter Überwachung? Nach welchen Selektoren, also Suchbegriffen, wurde der Datenverkehr durchsucht? Und wer entschied über die relevanten Suchbegriffe?

Erst letzte Woche wurde bekannt, dass nicht nur die NSA, sondern auch der deutsche BND nach der «Operation Transit» weiter bis 2013 europäische Ziele ausgespäht hat. Ob das auch die Schweiz betrifft, ist bislang unbekannt. Mit Genf als Sitz zahlreicher internationaler Organisationen liegt die Vermutung jedenfalls nahe.

Als Peter Pilz im Sommer von den Schweizer Geheimdienstagenten besucht wurde, verfügte er nur über einzelne Dokumente: ein E-Mail, die Prioritätenliste der NSA, den sogenannten Transit-Vertrag. Für ihn war das Anfangsverdacht genug. Für die Schweizer Behörden nicht. Ein halbes Jahr später ist aus den einzelnen Puzzlestücken ein viel deutlicheres Bild entstanden.

Pilz wird die Unterlagen wohl wieder mit den Schweizer Behörden teilen. Wieweit sich daraus neue Erkenntnisse für die Schweiz ergeben, kann er nicht beurteilen. Doch spätestens dann müsste die Justiz tätig werden. Und nicht der Schweizer Geheimdienst.