Fussball und andere Randsportarten: Der Rhythmuswechsler

Nr. 45 –

Pedro Lenz über die kranke Legende Johan Cruyff

Letzte Woche erfüllte eine Nachricht aus Barcelona die Sportwelt mit Besorgnis. Johan Cruyff, für viele Fachleute weltbester Fussballer aller Zeiten, ist an Lungenkrebs erkrankt. In Spanien und ganz besonders in Katalonien hat Cruyffs Erkrankung einiges zu reden gegeben. Für viele ist der 68-Jährige ein lebender Halbgott. Und als solcher hat er in den Augen seiner Gläubigen entweder fit oder tot zu sein. Ein leidender Cruyff, so die Meinung seiner Fans, übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen.

Dabei war der Mann aus Amsterdam schon einmal schwer krank. Wenige Jahre nachdem er seine unvergessliche Spielerlaufbahn beendet und eine ebenso erfolgreiche Karriere als Trainer eingeschlagen hatte, erlitt er einen schweren Herzinfarkt. Der Arzt, der ihn damals operierte, erzählte später nicht ohne Stolz, er sei der einzige Mensch, der Cruyffs Herz berührt habe.

Anders als beim Infarkt dürfte es diesmal länger dauern, bis Johan Cruyff wieder seine Rolle als Messias der Fussballkunst einnehmen kann. Er nehme die Herausforderung an, sagte Cruyff, kurz nachdem der Tumor in seiner Lunge diagnostiziert worden war. In seinem blumigen, von selbst erfundenen Ausdrücken und Sprachbildern angereicherten Spanisch bedankte er sich für das entgegengebrachte Mitgefühl. Nun wolle er sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und seinen Beitrag zu einer möglichen Heilung leisten.

Nachdem der Fussballer seit den späten sechziger Jahren in seiner Heimat mit Ajax Amsterdam für Furore gesorgt hatte, verpflichtete ihn 1973 der FC Barcelona. Damals konnte niemand ahnen, dass dieser Transfer nicht nur Cruyffs Leben, sondern auch die Geschichte des legendären Fussballklubs komplett verändern würde.

Cruyff brachte dem FC Barcelona, der damals über ein Jahrzehnt auf einen Titel gewartet hatte, den Erfolg und die spielerische Leichtigkeit, für die der Verein seither auf der ganzen Welt bewundert wird. Fast nebenbei und ohne Absicht wurde er auch zum Vorzeigestar der katalanischen NationalistInnen, weil er seinen Erstgeborenen 1974 Jordi taufen liess. Später sagte er dazu: «Ich wusste nicht, dass San Jordi der Nationalheilige Kataloniens ist. Meiner Frau und mir gefiel einfach der Name. Es war noch Diktatur, und der Standesbeamte sagte uns, wir dürften den Jungen nicht auf Katalanisch als Jordi eintragen. Nur die spanische Schreibweise Jorge sei erlaubt. Ich sagte ihm, unser Jordi sei holländisch gemeint. Das wurde dann akzeptiert.»

Als Spieler galt Cruyff als unerreichter Meister des Rhythmuswechsels. Scheinbar mühelos gelang es ihm, das Spiel zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Er allein bestimmte das Tempo und die Intensität einer Begegnung. Der Ball war sein Instrument und das Stadion sein Konzertlokal. Johan Cruyff konnte unvermittelt zum Solo ansetzen wie Chet Baker. Es gibt in Katalonien den bekannten Flamencogitarristen Diego Carrasco, der behauptet, fast alles, was er über Rhythmus und Phrasierung wisse, habe er von Cruyff gelernt. Der katalanische Schriftsteller Sergi Pàmies sagt, sein Schreiben und seine Sicht auf die Kunst seien von Cruyffs Spielstil geprägt. Und beim Starkoch Fermí Puig in Barcelona müssen alle AnwärterInnen auf einen Job beim Bewerbungsgespräch die Frage beantworten, was sie von Johan Cruyff halten: «Wer ihn nicht bewundert, negiert die Ästhetik und hat in meiner Küche nichts verloren!»

Als Cruyff in Barcelona als Trainer Ende der achtziger Jahre das legendäre Dream-Team formte und den FC Barcelona zum ersten Europacuptitel seiner Geschichte führte, wehrte er sich dagegen, als Held bezeichnet zu werden. Helden, erklärte er, müssten per Definition bereit sein, ihr Leben für ein höheres Ziel zu opfern. Das habe er nie getan. Er selbst fühle sich der Kunst verpflichtet und nicht dem Heldentum. Im Augenblick vertraut er auf die Kunst der ÄrztInnen.

Pedro Lenz (50) ist Schriftsteller und lebt in Olten. In seiner Kindheit wollte jedes fussballspielende Kind Cruyff sein. 
Es wimmelte auf den Strassen Langenthals von kleinen Cruyffs.