Kost und Logis: Heiliger Birnbaum!

Nr. 45 –

Bettina Dyttrich wirbt für Zucker, der auf Bäumen wächst

Meine Mutter ist im Wald aufgewachsen. Einem Wald, der Mitte des 20. Jahrhunderts vom Bodensee bis ins Baselbiet reichte und etwas von einem Paradiesgarten hatte. Im Frühling ein Meer aus Blüten und Bienen, im Herbst ein Schlaraffenland: Äpfel, Birnen, Kirschen, Zwetschgen und Pflümli.

Dieser Wald war nicht alt; es gab ihn nur gut hundert Jahre. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war Ackerbau viel verbreiteter in der Schweiz. In Felder pflanzt man keine Bäume, sie stören beim Pflügen. Doch um 1870 herum wurde «dank» Dampfschiff und Eisenbahn importiertes Getreide zum ersten Mal billiger als hier angebautes. Viele Höfe gingen Konkurs. Die übrigen stellten auf Milchwirtschaft um, oft kombiniert mit Obstbau – Kühe können gut unter Bäumen weiden.

Aber so schön die vielen Bäume waren, sie führten bald zu Überschüssen. Und der viele vergorene Most und Schnaps aus den Früchten störte die Gesundheitsbehörden gewaltig. So begann die Schweizerische Alkoholverwaltung, Prämien zu zahlen für jeden gefällten Baum. Der Bauboom ab den sechziger Jahren verstärkte den Kahlschlag noch. Zwischen 1950 und 1990 machte man zwölf Millionen Bäumen den Garaus.

Seit kurzem wachsen die Bestände wieder leicht. Das liegt vor allem daran, dass LandwirtInnen heute mit Hochstammbäumen einiges verdienen können: Biodiversitätsbeiträge, Landschaftsqualitätsbeiträge, Vernetzungsbeiträge. Wer Hochstammbäume pflanzt, tut das nur noch selten für den Obsterlös. Und eigentlich gibt es auch genug Mostobst, in guten Jahren sogar zu viel. Der «Markt», auf den der Bundesrat und das Bundesamt für Landwirtschaft sonst pochen, ist ihnen hier egal – weil Hochstammbäume in erster Linie als Ökoelement betrachtet werden. So bleibt viel Obst liegen, Rinder und Wespen fressen es auf. Beiträge gibts trotzdem.

Ist das schlimm? Wäre es besser, die Bäume würden gar nicht gepflanzt? Ich finde nicht. Natürlich wäre es noch besser, das Obst würde verwertet. Eine wichtige Rolle könnte dabei der Birnendicksaft spielen. Das «Kulinarische Erbe der Schweiz», dieses lustige Forschungsprojekt, das im ganzen Land Bäuerinnen, Köche und alte Frauen über Essenstraditionen befragt hat, führt einen langen Eintrag über ihn. Da lernt man, dass die Wahl der richtigen Birnensorte eine Kunst für sich ist. Und dass man im Zweiten Weltkrieg den Saft mit warmer Milch mischte und so tat, als wäre es Kaffee.

Birnendicksaft eignet sich als Brotaufstrich und als Zuckerersatz beim Backen und Süssen. Zucker ist ein problematisches Produkt, denn der Anbau von Zuckerrüben braucht viel Energie, baut Humus ab und beansprucht den Boden mit schweren Maschinen. Birnendicksaft dagegen stammt von wunderschönen Bäumen, in denen Spechte und Käuze wohnen.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Ihr Buch «Gemeinsam auf dem Acker. Solidarische Landwirtschaft in der Schweiz» ist kürzlich im Rotpunktverlag erschienen und im WOZ-Shop erhältlich.