Privatisierte Psychiatrie: Fit für den Markt statt für PatientInnen

Nr. 45 –

Der Kanton Bern will seine drei psychiatrischen Kliniken in Aktiengesellschaften umwandeln. Von dieser Massnahme ist der Berner Jura besonders betroffen. Das Vertrauen zwischen Angestellten und Direktion ist dort nachhaltig zerrüttet.

Ein schwarzes Stoffband am Laternenpfosten als Zeichen des Protests der Angestellten in der Psychiatrischen Klinik Bellelay gegen die von der Direktion ausgesprochenen Kündigungen.

Da ist wohl einer entwischt. Vier ÄrztInnen in weissen Kitteln laufen raschen Schrittes durch den kleinen Park der Psychiatrischen Klinik Bellelay und fragen aufgeregt: «Il est où? Il est où?» Dann kommt von irgendwoher Entwarnung, und sie kehren lachend zu ihrer Arbeit zurück. Es liegt wieder Ruhe über dem ehemaligen Kloster im Berner Jura. Wenn die Sonne scheint, sieht der massive Bau mit der angebauten hellen Klosterkirche recht freundlich aus. Doch im Innern der Mauern herrschen Angst, Unsicherheit und Misstrauen. Davon zeugen sechzehn schwarze Stoffbänder, die um Geländer und Laternenpfosten auf dem Areal gebunden sind. Sie stehen für die sechzehn Menschen, die ihre Kündigung erhalten haben – Spuren der Protestmittagspause des Personals von vergangener Woche.

Was ist geschehen? Lange genoss die Klinik Bellelay über die Schweiz hinaus einen guten Ruf als fortschrittliche, offene Psychiatrie, die mit ihrer dezentralen Organisation den PatientInnen ermöglichte, möglichst lange zu Hause zu bleiben. Sogar Diego Maradona liess sich Mitte der neunziger Jahre wegen seiner Drogensucht in Bellelay therapieren.

Auslagerung und Effizienzsteigerung

Die Klinik ist das Mutterhaus der Psychiatrischen Dienste Biel-Seeland – Berner Jura (PDBBJ). Die PDBBJ müssen zusammen mit den anderen beiden psychiatrischen Betrieben des Kantons (Bern und Münsingen) bis Anfang des übernächsten Jahres 34,5 Millionen Franken einsparen. Das bürgerlich dominierte Kantonsparlament will es so. Ab dem 1. Januar 2017 sollen die Kliniken als drei separate Aktiengesellschaften geführt werden, um im Wettbewerb mit den privaten Institutionen mithalten zu können. Der Kanton Bern wird alleiniger Aktionär, hat auf der operativen Ebene jedoch kein Mitspracherecht mehr. Nun müssen die drei Institutionen also «Fit for Future» gemacht werden, wie die Direktion die Sanierungsmassnahmen betitelt.

Bellelay trifft diese sogenannte Effizienzsteigerung am heftigsten. Während die Kliniken in Münsingen und Bern je 12 Prozent ihres Aufwands einsparen müssen, sind es für die PDBBJ 22 Prozent, sprich 9,4 Millionen Franken. Die erste Phase dieser Auslagerung hat nun im Oktober begonnen. Vor zwei Wochen wurden die ersten Kündigungen ausgesprochen. Insgesamt soll bis 2017 ein Fünftel der Stellen gestrichen werden.

«Anfangs hiess es noch, dass Inputs von uns erwünscht seien, wie wir den Umbau sozialverträglich gestalten könnten», sagt Franziska Müller*. «Doch unsere Vorschläge wurden gar nicht angehört.» – «Und nun ist nicht einmal die Personalkommission vorgängig über die Kündigungen informiert worden», fügt ihre Kollegin Verena Lenz* hinzu. Lenz und Müller sind ausgebildete Pflegefachfrauen und arbeiten in therapeutischen Einrichtungen der PDBBJ in Biel. Die Personalkosten machen gut siebzig Prozent des Gesamtaufwands aus. Also wird dort auch am meisten gespart. Ausserdem sollen zwei der neun dezentralen Einrichtungen, jene in Reconvilier und in Saint-Imier, geschlossen und dafür die Betten in Bellelay aufgestockt werden. «Es werden also Stellen abgebaut, während die Angestellten, die zurückbleiben, eine viel höhere Arbeitsbelastung haben», befürchtet Lenz: «Wenn wir der Direktion sagten, dass sich dies negativ auf unsere Arbeit auswirke, kam die Antwort, dass es nicht um Qualität, sondern ums Sparen gehe.»

Die Angestellten der PDBBJ fühlen sich allein gelassen. Nicht zuletzt, weil die Verantwortlichen einer nach dem andern ihre Sessel räumen. Auf der obersten Stufe hat Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud (SP) angekündigt, auf Sommer 2016 zurückzutreten, aus persönlichen Gründen. Auch die mit der Umsetzung der Auslagerung beauftragte Projektleiterin, der Direktor der Klinik und der ärztliche Direktor gehen. Zurück bleibt das Personal, das die Suppe auslöffeln muss. «An wen sollen wir uns jetzt wenden mit unserem Protest, wenn alle Verantwortlichen abtreten?», fragt Müller rhetorisch.

«Es gibt ein totales Führungsvakuum im operativen wie auch im strategischen Bereich», sagt Bettina Dauwalder von der Gewerkschaft VPOD Bern. Zusammen mit anderen Personalverbänden hat der VPOD letzte Woche eine Petition lanciert, die unter anderem die Sicherstellung der PatientInnenversorgung sowie faire Arbeitsbedingungen für das Personal verlangt. Am 16. November soll die Petition im Rahmen einer grossen Kundgebung in Bern dem Regierungsrat übergeben werden. Wirkungsvolle Proteste sind gerade im Pflegebereich schwierig zu organisieren, da der Betrieb gleichzeitig aufrechterhalten werden muss, damit PatientInnen nicht zu Schaden kommen.

Interner Röstigraben

«Weil viele der Angestellten Angst vor der Kündigung haben, machen sie nur die Faust im Sack», sagt Verena Lenz. Ausserdem habe die Direktion allen Angestellten einen Maulkorb verpasst, wie Gewerkschaften, Personalverbände und auch mehrere Angestellte der WOZ bestätigen. Fragt man bei der Direktion nach, wird dementiert: «Unsere Mitarbeitenden dürfen sich selbstverständlich öffentlich äussern, solange sie den Datenschutz unserer Patienten bewahren», sagt die Kommunikationsverantwortliche der PDBBJ. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass das Verhältnis zwischen Personal und Direktion zerrüttet ist.

Viele Angestellte fühlen sich auch von der Personalkommission nicht richtig vertreten. Hinzu kommt der Röstigraben. So sind kaum Deutschschweizer Angestellte der anderen Kliniken an die Protestmittagspause in Bellelay gekommen. Viele von ihnen verstehen nicht, warum man an Bellelay als Standort festhält. In diesen Räumen lässt sich kaum nach modernen psychiatrischen Standards arbeiten. Der massive Klosterbau wirkt wie eine Psychiatrie aus den fünfziger Jahren. «Kafka hätte sich dort wohlgefühlt», sagt beispielsweise SP-Grossrat Matthias Burkhalter. Die hohen Räume müssen zu einem hohen Preis geheizt werden und sind ungeeignet für eine optimale Mehrbettbelegung, ausserdem ist die Klinik mit dem öffentlichen Verkehr nur schlecht erreichbar. Manche vermuten, dass man aus Nostalgiegründen daran festhält, war doch Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud selbst einmal Direktor in Bellelay. Dieser entgegnet, dass sich in der Region bisher keine Alternativlösung habe durchsetzen lassen. Entsprechende Versuche seien immer mit grossen Vorbehalten aus der Bevölkerung sowie den Gemeinden quittiert worden. In Biel hat man derweil wenig Verständnis dafür.

Dass die Kliniken in Münsingen und Bern mit einem besseren Zwischenergebnis dastehen, hat verschiedene Gründe. Sie haben früher mit dem Umbau angefangen und Personalabgänge nicht kompensiert. Dies ist ein nach aussen schonenderer Stellenabbau, als er nun den PDBBJ bevorsteht, die Konsequenzen sind jedoch überall dieselben: weniger Personal für mehr Arbeitsaufwand und weniger Zeit für PatientInnen.

Dass wirtschaftlicher Wettbewerb der Pflege schadet, ist nichts Neues. 2018 soll mit Tarpsy schweizweit ein einheitliches, auf Fallpauschalen basierendes Tarifsystem eingeführt werden (siehe WOZ Nr. 19/2014 ). Die Pflegefachfrau Franziska Müller befürchtet eine Drehtürpsychiatrie. Psychische Krankheiten sind individuell. Anders als bei einem Beinbruch gibt es keine Zeitspanne, in der zum Beispiel eine Depression therapiert werden kann. Wenn Menschen also zu früh entlassen werden und keine Ressourcen da sind, um sie bei ihrer Rückkehr in den Alltag zu begleiten, stehen sie bald wieder vor der Tür. Über kurz oder lang werden sie zu chronischen PatientInnen, die in der Langzeitpflege landen. Aufgrund der Überlastung des Personals werde zukünftig wohl noch mehr auf den Einsatz von Psychopharmaka gesetzt, sagt eine Angestellte, die anonym bleiben will.

«Mut nicht verloren»

Der Regierungsrat ist nun darum bemüht, den PDBBJ einen Aufschub zu gewähren, sodass sie zwei Jahre nach der Auslagerung in eine Aktiengesellschaft noch rote Zahlen schreiben dürfen. Personalverbände und VPOD bestätigen, dass die Gesundheit- und Fürsorgedirektion (GEF) sich Mühe gebe, den Stellenabbau so glimpflich wie möglich über die Runden zu bringen. Die Entlassenen müssen erst in einem Jahr gehen. Bis dahin werden sie wie alle kantonalen Angestellten von der Arbeitsvermittlungsstelle begleitet und unterstützt, erhalten eine Abgangsentschädigung oder eine Sonderrente. Die dreissig Vollzeitstellen, die im Jahr 2016 gestrichen werden, betreffen 40 Personen. Laut GEF haben 24 von ihnen von sich aus gekündigt, weshalb noch 16 Kündigungen gesprochen wurden. «Das ist ein bekanntes Phänomen im Gesundheitswesen», sagt Dauwalder vom VPOD. «Sobald die Leute von Stellenkürzungen hören, gehen sie selbst auf Stellensuche und kündigen von sich aus.» Sie bemängelt zudem, dass bisher nicht klar ist, wie die neue Versorgung organisiert werden soll. Stattdessen werde nur vom Geld gesprochen, und es würden immer wieder andere Zahlen herumgeboten.

Ein weiteres Problem ist die Sprachbarriere. Französischsprachige MitarbeiterInnen können nicht einfach in einen deutschsprachigen Betrieb wie Münsingen wechseln. Nur schon in Biel wären die Zusammenarbeit und die Kommunikation mit den PatientInnen schwierig, befürchten Müller und Lenz. Die beiden Frauen haben zwar wenig Hoffnung, dass sich an den Abbauplänen noch etwas ändert. Dennoch freuen sie sich auf die Demo in Bern. «Es ist wichtig, sich gegenseitig zu stärken und auch der Öffentlichkeit zu zeigen, dass die Basis ganz und gar nicht einverstanden ist mit dem Vorgehen der Direktion», sagt Lenz. Denn im Gegensatz zu somatischen Spitälern, deren Schliessung oft Proteste von links bis rechts hervorruft, erfährt die Psychiatrie relativ wenig Sympathie in der Bevölkerung. «Psychische Erkrankungen sind nach wie vor stigmatisiert. Da halten sich viele lieber fern», sagt Müller. «Doch trotz allem haben wir den Mut nicht verloren. Wir kämpfen weiter für unsere Patientinnen und Patienten – und auch für uns.»

* Namen geändert.