Diesseits von Gut und Böse: Mediale Trauerriten

Nr. 47 –

Im Jahr nach dem Tod meiner Mutter – ich war zwanzig – gabs in der Nachbarschaft Gerede, weil jemand unterm schwarzen Mantel mein knallrotes Lieblingskleid hatte hervorblitzen sehen. Heute sind die Regeln, welche Form und Dauer bei Trauer als angemessen gilt, im Privaten zwar milder geworden, doch auch die Facebook-Gemeinde ringt um Karenzfristen und geziemendes Verhalten.

Dass die seit Samstag blau-weiss-rot übertünchten Profilbilder ähnlich schnell verschwinden werden, wie es das tausendfache Statement «Je suis Charlie» tat, ist klar. Bei einem meiner «Freunde» war schon nach fünf Stunden Schluss, sein Profilbild zeigt jetzt ein Glas Cognac mit Zigarre – auch Trauernde haben Feierabend.

Ansonsten ist es wie bei allen Leichenmählern: Wer nicht weint, lacht, sich besäuft, Witze erzählt oder alles gleichzeitig tut, streitet sich. Ob die Trikolore nicht eher ein koloniales Symbol ist. Warum tote FranzösInnen stärker beweint werden als Tote aus Beirut, Bagdad oder St. Petersburg. Ob man schon wieder Witze oder Tierlibildli posten darf, ohne pietätlos zu wirken. Manche beten, andere machen es wie immer: Kitsch, dass die Wände wackeln, jetzt halt mit Glitzereiffelturm und Vollmond.

Es gibt übrigens auch kluge Beiträge. Und was vermag der wunden Seele schon grössren Trost zu spenden als ein guter böser Witz?