Terror in Paris: Für ein anderes Wir

Nr. 47 –

Nur wenige Stunden nach den Terroranschlägen in Paris, bei denen Dschihadisten über 130 Menschen hinrichteten, breitete sich auf den sozialen Medien ein neuer Trend aus: NutzerInnen färbten ihr Profilbild in den Farben der französischen Trikolore ein. Man sollte niemandem, der dem Trend gefolgt ist, einen Strick daraus drehen – doch die Reaktion wirft Fragen auf: Warum Solidarität mit der französischen Nation? Geht es bei den Anschlägen um einen Kampf zwischen Nationen? Zwischen Kulturen?

Das ist, was Europas RechtsnationalistInnen uns glauben machen wollen. Wir gegen sie. Sie, das ist nicht nur der Islamische Staat (IS). Das sind potenziell alle MuslimInnen, von denen derzeit ein Teil die Grenze nach Europa zu überqueren versucht. Marine Le Pen, Chefin des Front National (FN), forderte einen Tag nach den Anschlägen die sofortige Ausweisung aller «illegalen Migranten». Unter diesem Druck inszeniert sich Präsident François Hollande als Kriegsherr und nähert sich weiter dem FN an: Nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» hatte er noch als symbolische Geste der Einheit den Rektor der Pariser Moschee zum Gespräch eingeladen und den FN aussen vor gelassen. Diesmal blieb diese Geste aus, dafür empfing der Präsident FN-Chefin Le Pen im Élysée-Palast.

Kaum irgendwo wurde die Haltung, die sich von rechts langsam in die Mitte frisst, so drastisch formuliert wie in der NZZ: Dort liess sich die deutsche Publizistin Necla Kelek zur Aussage hinreissen, Muslime dürften sich nicht mehr auf die Unschuldsvermutung berufen.

Steckt in jedem Muslim ein potenzieller Attentäter? Dies, weil der Terror im Islam wurzelt? Schwachsinn. Eine Religion ist das, was Gläubige aus ihr machen. Das gilt für das Christentum, auf das sich Befreiungstheologen wie Kreuzritter beriefen. Genauso gilt es für den Islam, auf den sich neben dem IS auch jene muslimischen Feministinnen beziehen, die ich während des Arabischen Frühlings auf dem Kairoer Tahrirplatz traf.

Die IslamistInnen sind vielmehr die RechtsnationalistInnen der islamischen Welt. Wie die europäische Rechte wurde auch der Islamismus Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, als Reaktion auf die diskreditierten – und in der islamischen Welt teilweise vom Westen gestützten – Eliten. Wie die europäische Rechte ist auch der Islamismus vom damals aufkommenden Nationalismus durchtränkt. Dieser lehnt die Gleichheit der Menschen ab. An ihre Stelle setzt er den ethnischen beziehungsweise religiösen Volkskörper, der sich mit anderen im Kampf befindet. Wie die europäische Rechte beginnt in den siebziger Jahren auch der Islamismus die an Bedeutung verlierende Linke zu ersetzten. Schliesslich enden beide Bewegungen immer wieder in Nihilismus und Gewalt: Die Rechte einst im Faschismus, der Islamismus im Terror.

Die RechtsnationalistInnen Europas und die IslamistInnen sind gar Verbündete: Die Attentate in Paris werden den Front National stärken, wie US-Historiker Robert Paxton im WOZ-Interview sagt (vgl. «In fünf Etappen in den Faschismus» ). Dies wiederum wird dem IS weitere Jugendliche aus den Pariser Banlieues in die Arme treiben. Oder wie es der IS selber formuliert: Der Terror eliminiere «die Grauzone» – die Muslime müssten sich zwischen dem Westen und dem IS entscheiden.

Der wahre Kampf, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts tobt, verläuft quer durch die Nationen. Sie: Dazu gehören IslamistInnen wie RechtsnationalistInnen. Wir: Das sind alle, die für die Gleichheit der Menschen einstehen – egal welcher Hautfarbe, Sprache oder Religion.

Dazu gehören auch die Millionen von Menschen, die während des Arabischen Frühlings in Kairo, Tunis oder Damaskus für die Freiheit auf die Strasse gingen. Dazu gehören die unzähligen SyrerInnen, die genau vor jenen Dschihadisten, die nun in Paris ein Blutbad anrichteten, hierher flüchten – wo sie von rechtsnationalen FremdenfeindInnen angegriffen werden. Dazu gehören auch die 10 000 IrakerInnen, die allein im letzten Jahr von Dschihadisten getötet wurden – oder die über vierzig Menschen, die kurz vor den Pariser Anschlägen in Beirut dem IS zum Opfer fielen.

Zum Wir gehören darüber hinaus auch die Tausenden getöteten ZivilistInnen, die der von nationalem Eifer angetriebene «Krieg gegen den Terror» schon gefordert hat. Genauso wie die über 20 000 Flüchtlinge, die bisher wegen der zunehmenden nationalen Abschottung Europas den gefährlichen Weg übers Mittelmeer auf sich nahmen und dabei ertranken. Auf den sozialen Medien ist als Alternative zur Trikolore sehr schnell auch das Friedenssymbol aufgetaucht. Ein Symbol für dieses Wir.