Unerhört-Festival: Das musikalische Esperanto von Salonicco

Nr. 47 –

«Nicht vergessen!» lautet der Anspruch der griechischen Sängerin Savina Yannatou. Am Zürcher Unerhört-Festival führt sie einen Liedzyklus zum polyglotten Erbe von Thessaloniki und eine Komposition über Guernica auf.

Dramatische Entladungen: Sängerin Savina Yannatou. Foto: Johanna Diehl

Es ist ein Portfolio der Vielstimmigkeit, das Savina Yannatou entfaltet, wenn sie ihre «Thessaloniki-Lieder» singt, die die einstige kulturelle Vielfalt der Hafenstadt an der Ägäis feiern. «Die Songs sind eine melancholische Erinnerung, die als Utopie in die Zukunft scheint», sagt die Sängerin. Seit Jahren hat sie mit der Gruppe Primavera en Salonico traditionelle Lieder aus dem Mittelmeerraum und vom Balkan gesammelt. Im Zyklus «Songs of Thessaloniki», als Album bei ECM erschienen, sind solche Lieder vereint, die noch aus der osmanischen Zeit der Stadt stammen, die auf Türkisch «Selanik» hiess und ein kosmopolitischer Schmelztiegel war.

Griechen, Türkinnen und Bulgaren lebten hier Seite an Seite mit Serbinnen und Armeniern, wobei jede Volksgruppe ihre eigenen Bräuche und Gewohnheiten, Sprachen und Dialekte pflegte sowie ihre eigene Musik. Sephardische JüdInnen, die nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel Ende des 15. Jahrhunderts nach «Salonicco» geströmt waren, bildeten die Mehrheit der Bevölkerung. Anfang des 20. Jahrhunderts sprühte das «kleine Jerusalem an der Ägäis» vor Geschäftigkeit. Neue Ideen zirkulierten, die sich an westlichen Werten orientierten.

Tanz in den Tavernen

So polyglott das Gewirr der Stimmen, so vielfältig waren die musikalischen Stile, die sich an dieser Schnittstelle zwischen Orient und Okzident begegneten. Sephardische Lieder, orientalische Melodien, Kantorengesänge, Tanzweisen vom Balkan, auch erste Rembetiko-Nummern schallten durch die engen Gassen oder waren in den Cafés und Tavernen am Hafen zu vernehmen. Westliche Instrumente wie das Akkordeon und die Geige fanden ihren Weg ins traditionelle Repertoire, auch orientalische Klangerzeuger wie die Nay-Flöte und die Laute Ud. Das alles vermischte sich zu einem grossen musikalischen Esperanto, das Yannatou auf eindrucksvolle Weise in Szene setzt. «Es ist der Blick auf das historische Thessaloniki durch die Augen der verschiedenen Volksgruppen und ihrer Lieder», erklärt die Sängerin. «In ihnen kreuzt sich das Schicksal der Menschen mit dem Schicksal der Stadt.»

Eine Serie von «Katastrophen» mit Zwangsumsiedlungen, Deportationen, Genoziden und schliesslich dem Holocaust, dem ein Grossteil der 50 000 jüdischen EinwohnerInnen zum Opfer fiel, zerstörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die multikulturelle Seele der Stadt. «Es geht darum: Nicht vergessen!», sagt Yannatou. «Nicht das kosmopolitische Erbe, nicht die kulturelle Vielfalt, nicht die Leidtragenden von Krieg, Gewalt und Rassenwahn.»

Ursprünglich als klassische Sängerin ausgebildet, kam Savina Yannatou über Umwege zum traditionellen Gesang. Nachdem sie zuerst mit Aufnahmen von Kinderliedern bekannt geworden war, entdeckte sie die Freiheit der kreativen Improvisation. 1993 traf sie das Ensemble Primavera en Salonico und fand so zur traditionellen Musik, der sie mit experimenteller Offenheit begegnet. Eine Vielzahl von Einspielungen zeugen von ihrer sprühenden Kreativität.

Vogel der Hoffnung

Am Zürcher Jazzfestival Unerhört ist Yannatou nicht nur mit ihrem Liederzyklus aus Thessaloniki zu hören, sondern auch in «The Blue Shroud» des Freejazzbassisten und Avantgardekomponisten Barry Guy. Ausgangspunkt der grossformatigen Komposition ist das berühmte «Guernica»-Gemälde von Pablo Picasso, das 1937 als Hommage an die Opfer der Bombardierung der baskischen Ortschaft durch die deutsche Luftwaffe entstanden war und heute als berühmtes Antikriegsmonument gilt.

In den dissonanten Klangballungen sind die Explosionen der Bomben zu hören, in den splitternden Saxofonklängen die Schreie der Menschen. Der «erblindete Vogel der Hoffnung» irrt durch die Intervalle, während die akustische Gitarre Flamenco und die Barockvioline Johann Sebastian Bach und Heinrich Ignaz Franz Biber einstreut und pointillistische Improvisationen sich zu dramatischen Entladungen steigern. Und dann stimmt Savina Yannatou leise einen Choral an, der wie eine mittelalterliche Lamentation klingt – eine Totenklage für die Ermordeten des faschistischen Terrors.

Savina Yannatou am Zürcher Unerhört-Festival: 22. November 2015 mit Barry Guy’s The Blue Shroud Band im Theater Rigiblick, am 24. November 2015 mit «Songs of Thessaloniki» im Museum Rietberg.

Kreatives Funkensprühen

Im Jazz von heute überlagern sich die verschiedensten Traditionen, Stile und Spielauffassungen. Das Unerhört-Festival, das vom 22. bis 29. November 2015 stattfindet, begibt sich ins Zentrum der kreativen Aktivitäten. An verschiedenen Orten in Zürich wird ein Programm geboten, das von neuen Bigbandsounds über minimalistischen Funk bis zu avantgardistischen Klangexplorationen reicht – kreatives Funkensprühen garantiert!

Neben der aktuellen New Yorker Szene, die sich heute hauptsächlich in Brooklyn tummelt, rückt das tiefe Register mit einer Reihe von Topbassisten (Barry Guy, William Parker, Mark Helias, Heiri Känzig) ins Rampenlicht. Für einen Höhepunkt wird sicher auch die Zürcher Pianistin Irène Schweizer sorgen: Sie tritt mit dem amerikanischen Spitzendrummer Joey Baron im Duo auf.

www.unerhoert.ch