«Krieg gegen den Terror»: Die schaurige Freund-Feind-Symmetrie

Nr. 48 –

Die USA haben sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die «dunkle Seite» eingelassen, um den Terrorismus zu bekämpfen. Das stärkte den Militarismus und schwächte die Demokratie. Begeben sich nun Frankreich und andere europäische Staaten auf den gleichen Pfad?

Wenige Stunden nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte die US-Regierung, ihr Land sei im Krieg. Präsident George W. Bush und sein Vize Dick Cheney zogen militärische Invasionspläne sowie umfassende Notstandsgesetze (Patriot Act) so flink aus der Schublade, als hätten sie bloss auf die Gelegenheit gewartet. VerschwörungstheoretikerInnen behaupteten denn auch prompt, die US-Regierung habe die Flugzeuge in die Türme des World Trade Center in New York gesteuert.

Bis jetzt sagt niemand, Frankreichs Präsident François Hollande habe die Bomben in Paris oder gar im malischen Bamako selber ferngezündet. Obwohl auch in diesem Fall ein innenpolitisch schwacher Staatschef eine blutige Gewalttat sofort dafür genutzt hat, mit kriegerischen Worten den starken Mann zu markieren. Obwohl auch Frankreich nach dem Vorbild der USA ein Antiterrorpaket geschnürt hat, das «gnadenlose» militärische Interventionen im Ausland vorsieht und die Notstandsgesetze im Inland über Monate absichert. Doch heute braucht es gar keine finsteren Verschwörungstheorien mehr, um die inzestuöse Beziehung zwischen Terrorismus und Antiterrorismus zu beschreiben. Sie ist längst durch die Wirklichkeit belegt.

Das Geschäft mit der Angst

Im globalen «Krieg gegen den Terror» haben die USA und ihre Alliierten in den letzten vierzehn Jahren den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert und den Verfall von bereits schwachen Staaten in der Region gefördert. Afghanistan, der Irak, Libyen, Syrien und der Jemen etwa sind Länder, in denen sich terroristische Gruppen, vorab der Islamische Staat (IS), heute weitgehend ungehindert ausbreiten können.

Wann immer die TerroristInnen Tod und Chaos verursachen, reagiert der Westen mit militärischen Gegenschlägen. Die intensiven Luft- und Drohnenangriffe verbreiten selbst wieder Angst und Schrecken in der Zivilbevölkerung der bombardierten Länder. Dies und die Zerstörung von überlebenswichtiger Infrastruktur erleichtern Gruppierungen wie dem IS und al-Kaida die Rekrutierung weiterer KämpferInnen.

Es ist eine Danse macabre, in der sich die westlichen Regierungen samt Verbündeten und der islamistische Terrorismus schneller und schneller drehen. Denn in den USA, aber auch in Europa und Russland sind die in den letzten Jahren schnell gewachsenen, ja aufgeblähten staatlichen Sicherheitsapparate auf Bedrohungen wie den IS angewiesen, um die eigene Macht, die finanziellen Ressourcen und den Handlungsspielraum (durch die Beschränkung der Bürgerrechte) sicherzustellen. Parteipolitisch sind es vor allem die Rechten, die mit der Angst vor dem Terrorismus Stimmung machen, als Nächste wohl Marine Le Pen vom Front National in den französischen Regionalwahlen im Dezember. Und schliesslich tanzen auch viele Medien willig mit: Wo immer Fernsehsender oder Zeitungen die Terroranschläge in nichtssagenden Endlosschlaufen als dramatische Unterhaltung präsentieren, profitieren sie nicht nur selber respektlos von den Bluttaten. Sie stützen gleichzeitig das gefährliche politische Geschäft mit der Angst und der Wut.

Mitgefühl statt Gefühligkeit

Entsetzen und Zorn sind zutiefst menschliche Reaktionen auf Mord und Totschlag, sei das in Paris oder im Luxushotel von Bamako, in afghanischen oder syrischen Häusern, in den Strassen von Bagdad, in Sarajevo, im Libanon, in Nigeria, in Somalia oder im russischen Flugzeug über dem Sinai, um nur einige Schauplätze terroristischer Anschläge der letzten Monate aufzuzählen. Und sobald man diese verschiedenartigen Orte benennt, kommen regionale Geschichte, Weltpolitik, inhaltliche Analyse zu dem spontanen Bauchempfinden hinzu. So kann aus blosser Gefühligkeit echtes Mitgefühl entstehen.

Wenn dieser Schritt hin zur Reflexion nicht passiere, sagt Nahostexperte Rami Khouri, dann bewege sich die öffentliche Diskussion über den Terrorismus in den immer gleichen realitätsfremden Bahnen. Ratlosigkeit und Ignoranz werden gepaart mit Arroganz und Militarismus, dazu kommt viel nationales Pathos.

So schrecklich die Gewalt wütet, Gruppierungen wie der IS sind kein Teufelswerk, sondern Teil unserer Gegenwart. Der Islamische Staat hat eine Vorgeschichte, die wir gerne verdrängen, und eine Zukunftsvision, der die AnhängerInnen alles unterordnen. Die IS-Scharfrichter, die ihre Enthauptungen per Video verbreiten, handeln unmenschlich – Menschen bleiben sie trotzdem. Die Terroropfer sterben sinnlos – doch junge Menschen schliessen sich dem IS an, weil sie glauben, dass das ihrem Leben Sinn gibt. Die Terroristen in Paris griffen die französische Lebensweise an – doch manche waren selber französische Bürger. So sehr sich das die Ängstlichen und Wütenden wünschen mögen: Die Welt kann nicht haarscharf in Opfer und TäterInnen, in Gut und Böse, Schwarz und Weiss aufgeteilt werden.

In den USA war dieser Dualismus, die Einteilung in Freund und Feind, nach dem traumatischen 11. September 2001 jedoch patriotische Pflicht. Die Medienschaffenden fügten sich mit wenigen Ausnahmen. Wer nicht mitmachte, wurde als «Verräter» beschimpft. Auch nach den Anschlägen von Paris gab es in den USA und in Europa vergleichbare Reaktionen. In England wurde dem Linkspolitiker Jeremy Corbyn «Sympathie für den Terrorismus» vorgeworfen. Beim deutschen TV-Sender ZDF wurden die ProduzentInnen der Kindernachrichtensendung «logo!» gerügt, weil sie die Attentate in Paris mit der Kolonialgeschichte Frankreichs in Zusammenhang brachten. Der Beitrag sei eine Verhöhnung der Opfer und ein Beispiel für westlichen Selbsthass, hiess es. Und im oberitalienischen Varese wurden drei Schülerinnen an den Pranger gestellt, die sich weigerten, Schweigeminuten allein für die Toten von Paris abzuhalten statt für die Terroropfer auf der ganzen Welt.

Rückeroberung der Vielfalt

Wer wissen will, wie sich politische Denkverbote und die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Namen der Sicherheit auf Dauer auswirken, schaue in die USA. Da herrscht seit 2001 ein «ewiger Krieg für den ewigen Frieden», wie der US-Historiker Gore Vidal den permanenten Ausnahmezustand nannte. Innen- wie aussenpolitisch hatte der von George W. Bush und seinem Stellvertreter Dick Cheney propagierte Militarismus als Antwort auf den Terror verheerende Auswirkungen, die bis heute andauern. Das Gefangenenlager Guantánamo ist bloss das sichtbarste Symbol für eine martialische Politik, die die Demokratie dieses Landes korrumpiert und geschwächt hat. Die USA haben sich bei der Bekämpfung des Bösen «auf die dunkle Seite eingelassen», wie Vizepräsident Cheney wenige Tage nach 9/11 gefordert hatte.

So kommt es, dass das US-Repräsentantenhaus dieser Tage mit grosser Mehrheit gegen die Aufnahme terrorgeplagter syrischer Flüchtlinge stimmt. Immerhin sprechen sich alle drei demokratischen PräsidentschaftskandidatInnen weiterhin für eine offene Flüchtlingspolitik aus. Die republikanischen KonkurrentInnen hingegen überbieten sich gegenseitig mit faschistoiden Ideen zur Terrorbekämpfung. Vorgeschlagen wird etwa die Internierung bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie es die USA im Zweiten Weltkrieg mit 120 000 japanischstämmigen AmerikanerInnen taten. Der Rechtspopulist Donald Trump fordert eine Registrierung sämtlicher MuslimInnen nach dem Muster des Judensterns in Nazideutschland.

«Entweder seid ihr mit uns oder mit den Terroristen», verkündete die US-Regierung im September 2001. Die Anschläge von New York hätten gezeigt, dass es bloss noch zwei Lager auf der Welt gebe, schrieb der IS im Februar dieses Jahres, kurz nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo», in seinem englischsprachigen Propagandamagazin «Dabiq» und forderte seinerseits «die Ausmerzung aller Grauzonen».

Angesichts dieser schaurigen Freund-Feind-Symmetrie ist ein wichtiger erster Schritt im Kampf gegen den Terrorismus die Rückeroberung der Vielfalt und Buntheit und Komplexität des Denkens, des Lebens, der Politik. Natürlich braucht es gezielte Polizeiaktionen gegen die terroristischen VerbrecherInnen. Doch es braucht nicht noch mehr Überwachungsstaat und Militär, noch mehr unversöhnliche xenophobe Politik, noch mehr Panikmache in den Medien.

Nach dem rassistischen Anschlag Mitte Juni auf eine schwarze Kirche in Charleston im Süden der USA, bei dem neun Menschen starben, haben die Angehörigen der Opfer gesagt, sie würden den Hass des Terroristen mit Liebe besiegen. Mit dieser stolzen Haltung hatten die afroamerikanischen Gemeinden Sklaverei und Rassismus überlebt. Ins Säkular-Politische übersetzt ist das auch für Paris oder Bamako ein möglicher Weg.