Haiti: Gelenkte Demokratie

Nr. 52 –

Die Stichwahl um die Präsidentschaft wurde verschoben. Vieles deutet darauf hin, dass das Ergebnis schon vorher festgelegt wurde.

«In der haitianischen Spielart der Demokratie werden Wahlen in kleinen Zimmern entschieden, in denen nur wenige oder gar keine Haitianer anwesend sind», sagt die haitianische Literatin Edwidge Danticat. So war das, als vor fünf Jahren der Schlagersänger Michel Martelly zum Präsidenten erwählt wurde, und vieles deutet darauf hin, dass sein Nachfolger bei der Stichwahl auf ähnlichem Weg ins Amt kommen wird. Die wurde nun vom 27. Dezember auf irgendwann im Januar verschoben.

Zuerst der Bananenmann

Zum ersten Wahlgang am 25. Oktober waren 54 Kandidatinnen und Kandidaten angetreten. Zwei Wochen später gab der provisorische Wahlrat ein vorläufiges Ergebnis bekannt. Danach seien Jovenel Moïse mit 32,8 Prozent der Stimmen auf dem ersten und Jude Célestin mit 25,3 Prozent auf dem zweiten Platz gelandet und somit die Teilnehmer der Stichwahl. Moïse, ein bislang politisch inaktiver 47-jähriger Agrarunternehmer mit dem Spitznamen «Nèg Bannan» (Bananenmann), war von Präsident Martelly zum Kandidaten seiner Partei bestimmt worden. Die heisst im haitianischen Kreol «Tèt kale» (Glatzkopf), weil Martelly seinen Schädel kahl zu rasieren pflegt. Der Präsident und sein Ziehsohn pflegen freundschaftliche Beziehungen zu den Köpfen der rechten Todesschwadrone der neunziger Jahre. Der eher links orientierte 53-jährige Célestin, der für die Alternative Liga für Entwicklung und Emanzipation in Haiti antritt, war unter dem früheren Präsidenten René Préval ein ziemlich erfolgreicher Chef der staatlichen Baufirma.

Schon bei der Wahl 2010 hatte Célestin in der ersten Runde den zweiten Platz belegt, durfte aber trotzdem nicht an der Stichwahl teilnehmen. Die konservative ehemalige First Lady Mirlande Manigat hatte diesen Wahlgang mit 31,4 Prozent der Stimmen gewonnen, dahinter lagen Célestin mit 22,5 Prozent und Martelly mit 21,8 Prozent. Der unterlegene Schlagersänger schrie «Betrug!» und schickte seine Anhänger zu gewaltsamen Demonstrationen auf die Strasse. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton intervenierten. Sie setzten durch, dass acht Prozent der Wahlurnen noch einmal ausgezählt wurden. Danach wurde zwar kein neues Ergebnis bekannt gegeben, aber trotzdem bestimmt: Die Stichwahl findet zwischen Manigat und Martelly statt, der linke Kandidat bleibt aussen vor.

Diesmal sind es Célestin und sieben weitere unterlegene Kandidaten, die das Ergebnis der ersten Wahlrunde wegen «massiven Betrugs» nicht anerkennen. Tatsächlich kam es auf ungewöhnliche Art zustande: Nach offiziellen Angaben haben 1,5 Millionen Menschen gewählt, rund 25 Prozent der Wahlberechtigten. 900 000 von ihnen waren vom als US-hörig geltenden Wahlrat als Helferinnen und Beobachter angestellt. Sie haben den Urnengang entschieden. Zwar wurde nach Strassenprotesten eine Stichprobe von 78 Urnen noch einmal ausgezählt, wobei sich herausstellte, dass keine Zahl der Nachzählung mit den offiziellen Akten übereinstimmte. Trotzdem erkannten die USA, die OAS, die Europäische Union, Kanada und Brasilien das Ergebnis ohne den Hauch eines Zweifels an. Sie hatten die Wahl finanziert und wollten einfach, dass sie «demokratisch» war.

Célestin hat den Wahlkampf eingestellt und fordert eine Wiederholung der ersten Runde. Regierungskandidat Moïse aber wirbt weiter um Stimmen, und Mosler Georges vom Wahlrat sagte an einer Pressekonferenz: «Alles ist bereit für den 27. Dezember.» Trotzdem wurde die Stichwahl am Dienstag auf Januar verschoben, ein Datum wurde nicht genannt. Ein vom Präsidenten eingesetztes Gremium soll vorher das Ergebnis des ersten Wahlgangs überprüfen.

Mit dem Überleben beschäftigt

Die eigentlichen Probleme der Bevölkerung spielen bei dem Gezänk keine Rolle: Im Land grassiert die von Uno-Blauhelmen eingeschleppte Cholera; sechs Jahre nach dem Erdbeben in der Hauptstadtregion leben noch immer rund 100 000 Menschen in Zeltstädten; neue Lager an der Grenze zur Dominikanischen Republik sind dazugekommen, weil die dortige Regierung papierlose haitianische EinwanderInnen und ihre Nachkommen ausweist. Die grosse Mehrheit der HaitianerInnen ist mit dem Überleben vollauf beschäftigt. Sollte im Januar wirklich gewählt werden, rechnet man mit einer Beteiligung von um die zehn Prozent.

Der ehemalige Sonderbotschafter Martellys in Washington Richard Morse geht davon aus, dass danach der Kandidat der Glatzkopf-Partei zum Präsidenten vereidigt wird. Morse ist ein Cousin des Präsidenten und hatte den Dienst quittiert, als er sah, wie Millionen von Hilfsgeldern für Erdbebenopfer in privaten Taschen verschwanden. Über den Kurznachrichtendienst Twitter mutmasste er nun: «Wahrscheinlich hat der Wahlrat die Stimmen der Stichwahl schon ausgezählt.»