Asylwesen: Nichts als die halbe Wahrheit

Nr. 4 –

Kommt es im Empfangszentrum Kreuzlingen zu Übergriffen des Sicherheitspersonals? Das behauptet eine fragwürdige Reportage der «SonntagsZeitung». Ein internes Mail des Zentrumsleiters zeigt: Komplett daneben scheint der Journalist trotzdem nicht zu liegen.

Der Bericht des deutschen Journalisten Shams Ul-Haq, der sich als Asylbewerber getarnt in die Empfangsstelle Kreuzlingen eingeschlichen hat, wirbelte Staub auf: Werden in Kreuzlingen Asylbewerber verprügelt? Sind Terroristen vor Ort? Wird mit Drogen gehandelt? Das und mehr behauptete der Artikel der «SonntagsZeitung» vom 16. Januar.

Der Journalist zitierte ein afghanisches Mädchen, nach dessen Angaben es in Kreuzlingen einen Raum gebe, «in den Sicherheitsleute Flüchtlinge mitnähmen, um sie zusammenzuschlagen». Und: «Am Montagnachmittag gibt es eine Auseinandersetzung im Hof zwischen einem Sicherheitsbeamten und einem Flüchtling. Ich sehe, wie der Beamte ihm zwei Ohrfeigen verpasst und ihn schubst. Später erfahre ich, dass der Flüchtling vom Beamten gerufen wurde und er nicht reagiert hatte. (…) Ich komme mit einer sehr vertrauenswürdigen Person ins Gespräch, die über ein Jahr dort gearbeitet hat. Auch diese Person erzählte, dass hier die Flüchtlinge von Beamten zusammengeschlagen würden. Der Mann erinnert sich an einen Fall vor drei Wochen. Da sei ein Flüchtling krankenhausreif geschlagen worden.» Die anderen Zitate betreffen Drogen und Terrorismus. Ein Blick, ein Terrorist: «Hier in Kreuzlingen ist mir ein Mann aufgefallen, von dem ich aufgrund des Verhaltens sagen kann, dass er entweder früher einmal für eine terroristische Organisation gearbeitet hat oder gar hier als aktives Mitglied untergetaucht ist.» Ein Blick, drei Dealer: «Drei der Männer waren stets gut angezogen und die letzten Tage morgens früh gegangen und spät erst wieder gekommen. Sie waren wohl ihren Drogengeschäften nachgegangen.»

«Ohne Honorar keine Informationen»

Das Empfangs- und Verwaltungszentrum Kreuzlingen: ein Klischeesodom für jedermann. Der Securitas-Mann: ein Schläger. Der gut gekleidete Asylbewerber: ein Dealer. Ein anderer: untergetauchter Terrorist. Und der Journalist: über alle Berge. Adieu, merci. Zurück blieb Ratlosigkeit: Was war an der Geschichte wirklich dran? War irgendetwas von dem, was hier geschrieben wurde, verifizierbar?

Kaum hatte Shams Ul-Haq fertig recherchiert, setzte er sich in einen Zug nach Frankfurt am Main und liess ausrichten, dass er keine Quellen preisgebe. Als ihn das «Regionaljournal» zu den Vorgängen interviewen wollte, beschied er per Mail: «Wenn SRF kein Honorar für Informationen bezahlt, möchte ich leider absagen.»

Wie glaubwürdig ist ein Journalist, der eine derartige Bombe platzen lässt und dann für dringend nötige Erklärungen, die seine Story stützen würden, Geld verlangt? War das Stück in der «SonntagsZeitung» am Ende purer Borderlinejournalismus?

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) reagierte auf die Berichterstattung: Es teilte in der Woche nach dem Erscheinen des Artikels mit, es dulde keine Gewalt gegen Asylbewerber und werde deshalb die Vorwürfe extern untersuchen lassen. Leider sei der Journalist bisher nicht bereit gewesen, sich mit VertreterInnen des Staatssekretariats zu treffen.

Gegenüber der WOZ sagt Shams Ul-Haq: «Ich bin inzwischen über meinen Anwalt mit dem Staatssekretariat in Kontakt. Wir haben klargemacht: Wenn man mir garantiert, dass niemand der Auskunftspersonen wegen der Untersuchung ihren Job verliert, dann werde ich – sofern die Quellen einverstanden sind – Zugänge schaffen.»

Eine Aussage, die ein SEM-Sprecher dementiert: «Das ist schlicht falsch. Weder gab es bisher einen Kontakt des SEM mit Herrn Ul-Haq oder seinem Anwalt, noch hat das SEM Bedingungen für ein Gespräch erhalten. Es gilt, was wir bereits an früherer Stelle gesagt haben: Staatssekretär Mario Gattiker hat die Chefredaktion der ‹SonntagsZeitung› bereits am Tag nach der Publikation angeschrieben und den Journalisten gebeten, sich für ein Gespräch zur Verfügung zu stellen. Das SEM bedauert, dass es bisher nicht zu diesem Austausch gekommen ist.»

E-Mail bestätigt «Fehlverhalten»

Auch wenn der deutsche Journalist Shams Ul-Haq eine völlig schräge Nummer abgezogen hat und im Gespräch mit der WOZ mitunter offenbar die Unwahrheit sagt und nicht gewillt zu sein scheint, zu einer weiteren Klärung beizutragen: Es kommt nicht von ungefähr, dass die Geschichte gerade jetzt erschienen ist. Recherchen der WOZ zeigen, dass im Empfangszentrum in Kreuzlingen durchaus einiges schiefläuft. Das belegen ein E-Mail von Stefan Preisig, der für die private Asyl-Organisation Zürich (AOZ) im Auftrag des Bundes das Empfangszentrum leitet, sowie Aussagen von zwei Quellen aus dem Empfangszentrum. Zehn Tage vor der Berichterstattung in der «SonntagsZeitung», am 8. Januar 2016, schreibt Preisig ein Mail an seine rund vierzig MitarbeiterInnen: «In den vergangenen Wochen haben sich Klagen über Fehlverhalten von Mitarbeitenden der Securitas gehäuft. Am kommenden Mittwoch findet ein Gespräch mit Herrn Boxler statt, an dem der Umgang mit Vorwürfen thematisiert werden soll. (…) Werden konkrete Vorwürfe an mich herangetragen, so leite ich diese an das SEM weiter. Seitens SEM-Leitung vor Ort wird diesen Vorwürfen nachgegangen.»

«Herr Boxler» ist Roger Boxler vom Staatssekretariat für Migration und somit der eigentliche Chef des Kreuzlinger Zentrums. Boxler also muss wissen, was Sache ist. Und «Fehlverhalten» ist bekanntlich ein ziemlich breiter Begriff. Im Kontext der Berichterstattung der «SonntagsZeitung», die die Securitas-Mitarbeiter quasi unter Prügelgeneralverdacht stellt, liest man darin vor allem «krankenhausreif geschlagen».

Das SEM bestätigt, vom E-Mail Kenntnis zu haben, weigert sich aber, die Aussage in irgendeiner Form zu kommentieren. «Das SEM kommentiert interne Mails der Asyl Organisation Zürich (AOZ) nicht. Über die Resultate der jetzt eingeleiteten Untersuchung werden wir zu gegebener Zeit informieren.»

«Aggressive Grundstimmung»

Wenn das SEM nicht reden will, müssen andere reden. Zwei Quellen aus dem Empfangszentrum, deren Namen der Redaktion bekannt sind, geben Auskunft. Das ambivalente Ergebnis der Gespräche: Einerseits wird die Darstellung der «SonntagsZeitung» angezweifelt, andererseits wird von Dingen berichtet, die die Berichterstattung nicht komplett in Zweifel ziehen und bedenklich sind. Diese Gespräche geben einen Ausblick, was bei den folgenden Untersuchungen zutage gefördert werden könnte.

Quelle 1: «Kaum einer wird hier sagen: ‹Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich den Bericht in der Zeitung gelesen habe.› Im Kreuzlinger Zentrum herrscht eine aggressive Grundstimmung. Ein Beispiel: Ein Securitas schleicht in der Mensa zwei somalische Frauen von hinten an, schnippt mit seinem Finger zwischen ihren Köpfen hindurch und brüllt sie auf Schweizerdeutsch an, dass sie verschwinden sollen, obwohl die Essenszeit noch nicht abgelaufen ist und sie noch den halben Teller vor sich haben. Sie kichern irritiert und essen weiter. Kein Einzelfall.»

Quelle 2: «Seit Jahren kursieren unter uns Mitarbeitern Gerüchte, dass das Sicherheitspersonal Leute schlägt. Aber niemand von den Mitarbeitern wird sagen können: ‹Ich habe gesehen, wie Leute einfach so gepackt und geschlagen wurden.› Wenn dem wirklich so wäre, müsste schon einer, der dabei war, auspacken. Und dann hätte er ja eine Straftat begangen, also bezweifle ich das. Ein konkretes Gerücht, das sich bis heute hält und das bei einer Untersuchung auch leicht zu überprüfen wäre: dass im Sommer zwei Securitas-Mitarbeiter abgezogen wurden, weil sie unverhältnismässige Gewalt angewendet haben.»

Quelle 1: «Ich weiss, dass es im Dezember zwischen Mitarbeitern der AOZ und dem Pflegepersonal zu einer Art Aussprache kam. Wer die Sache untersucht, sollte sich zwingend mit dem Pflegepersonal unterhalten, denn laut deren Aussagen sind dort diverse Fälle dokumentiert, die sich in den letzten Jahren angehäuft haben. Demnach wurden Asylbewerber vom Sicherheitspersonal erheblich verletzt. Der letzte Fall datiert vom Dezember vergangenen Jahres. Damals hat ein Securitas einem Asylbewerber mehrmals das Knie in den Bauch gerammt. Wobei man bei derartigen Aussagen vorsichtig sein muss: Von wem ging die Gewalt letztlich aus? Bei der Aufarbeitung steht Aussage gegen Aussage.»

Quelle 2: «Es ist ja nicht so: Hier die bösen Securitas und dort alle anderen. Du hast auf allen Seiten Leute, die ihre Arbeit unterschiedlich angehen. Die einen interessieren sich für Schicksale der Asylbewerber, andere bloss dafür, ob die Küche funktioniert und dass alles möglichst reibungslos abläuft. Aber Reibungslosigkeit darf man von diesem Job hier nicht erwarten. Da brennen manchmal halt schon Sicherungen durch. Einmal sah ich eine Securitas-Mitarbeiterin, wie sie den Hitlergruss machte.»

Quelle 1: «Offenbar ist die Stimmung in den Aussenstellen der Empfangsstelle ganz anders. Die Securitas zum Beispiel: Sie sprechen englisch und sind freundlich, und die Asylbewerber loben den Umgang. In Kreuzlingen aber werden die Asylbewerber im Befehlston und auf Schweizerdeutsch angeraunzt.»

Quelle 2: «Warum ist im Hauptzentrum die Stimmung derart anders? Das habe ich mich schon ein paarmal gefragt. Es hat sicher mit der massiven Belastung zu tun: In den letzten zwölf Monaten kamen so viele Flüchtlinge in die Schweiz wie seit zwanzig Jahren nicht mehr, und ein erheblicher Teil davon kommt über Kreuzlingen ins Land. In einer Extremsituation kann es vorkommen, dass man an einem Wochenende zu dritt 400 Asylbewerber betreut, gemeinsam mit zehn Securitas. Und wenn dann ein Notfall passiert! Man rennt nur noch. Es ist ja durchaus so, dass gewisse Asylbewerber sehr schwierig sind oder zum Teil auch aggressiv. Du stehst den ganzen Tag unter Stress, und du verstehst sie nicht und sie verstehen dich nicht, und plötzlich flippt einer aus und schubst dich. Der Job ist alles andere als einfach. Aber klar ist auch: Wer das nicht aushalten kann und die Fassung verliert, der ist hier falsch.»

Hitlergrüsse im Empfangszentrum? Securitas-Mitarbeiter abgezogen wegen gewalttätiger Übergriffe? Listen von verletzten Asylbewerbern beim Pflegepersonal? Ein Zentrumsleiter, der per Mail «sich häufende Klagen über Fehlverhalten» thematisiert? Wieder: «Kein Kommentar», sowohl beim SEM wie auch bei der Securitas, wo man fast schon genüsslich darauf hinweist, dass man wegen der laufenden Untersuchung jetzt leider wirklich gar nichts sagen könne.