Arabischer Frühling: Mit Witz, Charme und Mut für eine Alternative

Nr. 5 –

Der Arabische Frühling ist gescheitert. Vom Aufstand geblieben sind revolutionäre Ideen – und eine Aufbruchstimmung unter den Menschen der Generation 2011.

«Als der Arabische Frühling im Jahr 2011 begann, lud ich die ganze Universität zu einer grossen Party ein: Lasst uns jetzt feiern – denn das nächste Jahr ist das Jahr der Konterrevolution.» Nisar Ghanem, der das erzählt, ist ein libanesischer Aktivist, sozusagen ein Überlebender des Arabischen Frühlings, obwohl der Frühling im Libanon nur zaghaft und mit viel Verspätung angekommen war.

«You stink» nennt sich die Protestbewegung auf Englisch, im Juli 2015 entstanden als Antwort auf die Müllkrise, die libanesische Städte tatsächlich zum Himmel stinken liess. «You stink» – besser kann man es nicht formulieren: Ihr stinkt. Ihr, die ganze korrupte Kaste, das überlebte Politsystem, das keinen Freiraum, keine persönliche Entfaltung zulässt, das keine Jobs und Perspektiven bietet, das das Land dem Müll überlässt. Wie vorher in den meisten arabischen Ländern schlossen sich auch im Libanon gut ausgebildete junge Leute aus der Mittelklasse und etwas rabiatere Vorstadtkids für die Proteste zusammen, und sie brachten das System tatsächlich ein wenig zum Zittern.

Die ewige Rechtfertigung

Ghanem behielt damals recht. Je weiter und erfolgreicher sich der Aufstand ausdehnte, desto brutaler wehrten sich die Herrschenden. Mit Prügelpolizei und berittenen Schlägertrupps, später mit Panzern, Artillerie und Fassbomben versuchten sie, die Revolte zu ersticken. In einem Klima islamischer Nostalgie, das die Region seit geraumer Zeit überzieht, schüren sie konfessionelle und ethnische Konflikte. Demokratische Rebellionen in Syrien, Libyen und im Jemen wurden in Bürgerkriege getrieben, in denen Giftgas, Lynchmorde und das Aushungern ganzer Städte zur Kriegsführung gehören.

In Ägypten putschte sich ein autoritäres Regime an die Macht, in einem rechtsstaatlichen Mäntelchen. Gewalttätiger religiöser Kult führte zu Irrungen wie dem «Kalifat» des sogenannten Islamischen Staats (IS), der jede andere Gesellschaftsform negiert und bekämpft. Das alles bietet den autoritären arabischen Regimes ihre ewige Rechtfertigung: Es gibt keine Alternative. Denn bei allem Streit und dem Hass, den sie gegeneinander hegen, behaupten sie doch einmütig: Ohne uns herrschen Chaos, Anarchie und Extremismus. Doch selbst wenn diese Regimes vielen im Vergleich zum IS als das kleinere Übel erscheinen – sie haben jede Legitimität verloren.

Wie organisieren wir die Gesellschaft?

In den Aufständen seit 2011, zuerst in Tunesien, dann in Ägypten, Bahrain, Libyen, im Jemen und in Syrien wurden die grossen Fragen gestellt. Die wichtigste Parole – «Das Volk will den Sturz des Regimes» – beinhaltete alles: Wie organisieren wir die Gesellschaft? Was heisst Demokratie, was heisst Gerechtigkeit? Wie wird Reichtum gerecht verteilt, wie wird Armut bezwungen? Das «Volk», das diese grossen Fragen gestellt hat, das Freiheit, Rechte und Würde forderte, weiss seit dem Jahr 2011, dass eine andere arabische Welt möglich ist. Die demonstrierenden Millionen in den Hauptstädten und Provinzkäffern haben diese andere Welt bereits geschaffen. Sie haben ihre Proteste selbst organisiert, die Revolte koordiniert, sie haben die Demonstrationen verteidigt und geschützt, sie haben zivile Strukturen der Selbsthilfe geschaffen, Quartierkomitees und Stadträte aufgebaut.

Quer durch die arabische Welt bewiesen die Menschen, dass es Alternativen gibt zu jenen Regimes, die sich mit Gewalt an der Macht halten konnten, zu den Dieben und Kleptokratinnen, zu den korrupten Chefs staatlicher Betriebe, zu Repression, Willkürjustiz, Günstlings- und Vetternwirtschaft. Ihre Legitimität völlig verloren haben auch die Herrscherfamilien am Golf – die Sauds, al-Thanis, al-Chalifas. Das Portemonnaie ist ihr einziges Argument, Waffengewalt ihre einzige Überlebenschance.

Die AktivistInnen des Arabischen Frühlings verkörpern die Alternative – und sie arbeiten immer noch daran. Jene, die überlebt haben, die nicht verschwunden sind, entführt oder eingesperrt; die nicht getötet wurden in den Kriegen; die nicht geflüchtet sind, um in Europa ein würdiges Leben zu suchen, fern von Krieg und Repression. Diese Generation 2011 hat sich bestens vernetzt. Es sind Menschen Ende zwanzig, Anfang dreissig. Sie geben sich nicht als künftige politische Elite oder als AnführerInnen der Revolution. Sie engagieren sich auch nicht in den traditionellen politischen Strukturen oder neuen Parteien. Viele arbeiten in kleinen nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und Basisgruppen, die oft vom Westen, auch von der Schweiz, finanziert werden. Meist sind sie sehr gut ausgebildet und unterdessen sehr erfahren – sie wissen zu agieren, der jeweiligen Situation angepasst.

Ula Ramadan ist eine solche Aktivistin, die kleine Gruppen in und um Syrien koordiniert. Sie sagt: «Die Widerstandsfähigkeit der Menschen besteht weiter. Nur die Art und Weise des Aufstands hat sich geändert.»

«Die Mächtigen haben Schiss»

Gerade die SyrerInnen sind umzingelt von radikalen und weniger radikalen IslamistInnen, von Bewaffneten aller Art, von militärisch-mafiösen staatlichen und nichtstaatlichen Strukturen, bedroht von russischen, US-amerikanischen, französischen, kanadischen, saudischen, jordanischen, katarischen, emiratischen, bahrainischen, australischen, syrischen, türkischen, britischen Bomben aus der Luft. «Heute initiieren wir Friedensprojekte in Regionen, die vom IS kontrolliert werden», so Ramadan. «Oder wir führen Kampagnen gegen die Rekrutierung von Kindern.» Doch das werde international kaum wahrgenommen, die Medien konzentrierten sich darauf, wer gerade wen umbringe, sagt die Aktivistin.

Diese Basisgruppen sind eigentliche Biotope, in denen der Geist des Aufstands gehegt und gepflegt wird, weiterwächst. In denen Witz und Mut weiterleben, der Charme der Revolution. Was fehle, sagt Ramadan, sei die Verbindung zu den klassischen politischen Prozessen. Niemand interessiere sich dafür, die AktivistInnen in diese Prozesse mit einzubeziehen – und diese seien selbst auch gar nicht daran interessiert. Sie sehe zwar die Notwendigkeit dafür. «Aber ich selbst würde mich da nie beteiligen wollen. Diese Prozesse sind viel zu korrupt.»

«Die Fähigkeit zu handeln ist nun bei den Menschen», sagt der libanesische Aktivist Nisar Ghanem. «Die Leute haben früher nicht geglaubt, dass Handeln möglich ist. Heute argumentieren sie nicht mehr grundsätzlich dagegen, auf die Strasse zu gehen. Sie diskutieren nur noch, in welcher Form.» Und Ula Ramadan sagt, sie fühle sich privilegiert, in dieser Zeit zu leben. «Denn wir haben angefangen, alles zu hinterfragen, auf jeder Ebene. Geschlechterdiskriminierung, das politische System, selbst Gott.»

Es ist paradox: Für zivile Politik und Aktivismus gibt es wenig, vielerorts gar keinen Raum mehr – ob in Kairo, in Damaskus, Rakka, Sanaa oder Tripolis. Und dennoch findet Ghanem: «Die demokratische Sphäre hat sich ausgedehnt. Die Mächtigen haben fürchterlich Schiss!»

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