Barcelona: «Wir haben schon viel erreicht»

Nr. 8 –

Vizebürgermeister Gerardo Pisarello sagt, was passiert, wenn antiautoritäre Linke eine Millionenstadt regieren.

WOZ: Herr Pisarello, Ihr Bündnis Barcelona en Comú regiert seit einem guten halben Jahr – und mittlerweile haben Sie den ersten grossen Konflikt: Im öffentlichen Nahverkehr wird gestreikt, und Bürgermeisterin Ada Colau geriet mit der Basisgewerkschaft CGT aneinander. Hat sich der Gang in die Institutionen gelohnt?
Gerardo Pisarello: Wir mussten erst einmal begreifen, was es bedeutet, wenn die Rechte die Institutionen so lange kontrolliert. Deshalb waren wir auch überrascht, wie weit sie die Kommerzialisierung der Stadt bereits vorangetrieben hat. Allein um solche Prozesse zu bremsen, lohnt es sich, in die Institutionen zu gehen.

Aber es stimmt, dass die Probleme erst beginnen. Im Stadtparlament stellen wir 11 von 41 Abgeordneten – die meisten Projekte müssen wir also mit der Opposition aushandeln.

Und wie funktioniert das?
Trotz aller Probleme haben wir viel bewegt, haben einen Sonderhaushalt von über hundert Millionen Euro zur Armutsbekämpfung verabschiedet. Es werden dreimal so viele kostenlose Essen für Kinder ausgegeben, die Hilfen für die Unterbringung von Wohnungslosen haben wir ebenfalls verdreifacht. Und das alles haben wir auch mit Ungehorsam erreicht – denn um den Etat verabschieden zu können, mussten wir Lücken im Gesetz suchen und die Austeritätsvorgaben umgehen.

Man könnte das so zusammenfassen: Es gibt Mächte in den Institutionen, die Veränderungen verhindern. Die Bevölkerung dagegen erwartet mehr. Aber damit mehr möglich wird, muss die Bevölkerung den Druck erhöhen.

Erhöhung der Sozialausgaben, Stopp der Privatisierungen – das will auch die traditionelle Linke. Ihr Ziel war es hingegen, gemeinsam mit der Bevölkerung zu regieren.
Wenn wir weniger bürokratische Formen der Beteiligung etablieren wollen, reagiert die Opposition mit erbittertem Widerstand. Sie bezeichnet uns als «Populisten», startet eine Medienkampagne. Aber wir wollen einen «Munizipalismus der Strasse». Wir veranstalten in den Stadtteilen offene Versammlungen, bei denen die Bevölkerung ihre eigenen Forderungen entwickeln kann.

Allerdings sind viele der mit den Protesten des Movimiento 15-M entstandenen Bewegungen inzwischen schwächer geworden – was auch daran liegt, dass die Bevölkerung ihre Erwartungen an die Stadtregierung delegiert. Und dieses Problem zu lösen, liegt nicht allein in unseren Händen. Wir rufen die Leute permanent dazu auf, auf die Strasse zu gehen. Denn ohne gesellschaftlichen Druck, ohne die Autonomie der Bewegungen wird sich nichts ändern.

Warum ist der Konflikt mit den Busfahrern dann eskaliert?
Es ist ein gewöhnlicher Arbeitskonflikt. Neue Tarifverträge werden ausgehandelt – und die Gewerkschaften setzen ihre Instrumente ein, um Druck auszuüben. Dieser Vorgang ist völlig logisch, und wir respektieren ihn. Doch die Angestellten der Stadt sind nicht diejenigen, die am stärksten unter Prekarisierung leiden. In Barcelona wurde ein grosser Teil des öffentlichen Diensts ausgelagert – es gibt Leiharbeiter und Scheinselbstständige. Wir glauben, dass Verbesserungen für diese Leute Priorität haben sollten. Für viele Gewerkschaften – ich meine jetzt ausdrücklich nicht die CGT – sind die prekär Beschäftigten hingegen oft nicht so zentral.

Für uns ist eines entscheidend: Eine Stadtregierung, die gesellschaftliche Veränderungen anstrebt, sollte Arbeitskämpfe nicht als Angriff sehen. Stattdessen muss sie solche Konflikte als Chance für eine radikale Politik sehen.

Der argentinische Philosoph Miguel Benasayag unterscheidet zwischen Politik und Verwaltung: Politik ist immer horizontal und selbstorganisiert, die Verwaltung muss den Kompromiss und entsprechende technische Lösungen suchen. Benasayag glaubt, dass gesellschaftliche Brüche, die etwas Neues ermöglichen, nur aus der «horizontalen» Politik und nie aus den Institutionen kommen können.
Institutionen können die Voraussetzungen für soziale Kämpfe und Selbstverwaltung enorm verbessern. Man kann aus den Institutionen heraus Genossenschaften oder Multis fördern, mit Repression gegen Proteste vorgehen oder Repression verhindern. Es ist also nicht egal, wer die Institutionen kontrolliert. Aber es stimmt auch, dass Veränderungen nicht in erster Linie durch eine gute Stadtregierung, sondern durch dauerhafte gesellschaftliche Mobilisierung ermöglicht werden.

Sie sind Mitglied der antikapitalistischen Bewegung Procés Constituent a Catalunya, die einen konstituierenden Prozess wie in Venezuela oder Bolivien fordert. Katalonien arbeitet an einer neuen Verfassung und an der Gründung einer unabhängigen Republik. Ist das der verfassunggebende Prozess, auf den Sie hingearbeitet haben?
Die Situation in Katalonien ist nicht mit der in Lateinamerika vergleichbar. Dort sind die politischen Systeme regelrecht kollabiert, wodurch grundlegende Veränderungen erst möglich wurden. In Spanien hat es jedoch keinen solchen Zusammenbruch gegeben.

Dennoch hat die katalanische Unabhängigkeitsbewegung Spielräume eröffnet, wie sie auf nationaler Ebene nicht existieren. Es gibt Raum für eine Verfassungsdebatte und für Veränderungen. Das ist noch nicht, was wir uns wünschen, die Verfassungsdebatte wird weiter von den politischen Parteien dominiert. Aber es öffnet sich ein Raum, unsere Aufgabe ist, diese Demokratisierung weiter voranzutreiben – damit ein gesellschaftlicher Prozess daraus wird.

Im Ausland spricht man vor allem über Podemos. In Spanien selbst scheint Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, grössere Strahlkraft zu besitzen als Podemos-Chef Pablo Iglesias. Der Munizipalismus der alternativen Listen steht auch für ein anderes Politikkonzept: den Aufbau basisdemokratischer Bewegungen aus den Stadtteilen heraus. Andererseits steht die Bürgerbewegung Ahora Madrid kurz vor dem Zerfall. Wird der Munizipalismus als Projekt Bestand haben?
Nur wenn er sich mit anderen Transformationsprojekten verbündet – in anderen Städten, mit politischen Bewegungen im Staat, mit internationalen Bewegungen wie dem Democracy in Europe Movement 2025 von Yanis Varoufakis. Deshalb ist für uns das Netzwerk Rebellische Städte so wichtig. Dieser Archipel muss Verbindungen nach Europa und in den Globalen Süden knüpfen.

Wir brauchen unkontrollierbare Dynamiken, die den Rahmen aufsprengen. Nur dann werden wir etwas bewegen können.

Gerardo Pisarello

Der argentinische Verfassungsrechtler Gerardo Pisarello (45) ist stellvertretender Bürgermeister Barcelonas und eine der zentralen Figuren der neuen politischen Linken in Spanien. Im Mai 2015, nur wenige Monate nach ihrer Gründung, eroberte Barcelona en Comú das Rathaus von Barcelona – und mit Ada Colau stellt die basisdemokratische BürgerInnenliste seither auch die Bürgermeisterin der Stadt.

Mit den Stadtregierungen von Madrid, Zaragoza, A Coruña, Cádiz, Santiago und Iruñea bildet Barcelona en Comú das Netzwerk Rebellische Städte, das zum Bezugspunkt von radikaldemokratischen Bewegungen in ganz Europa geworden ist.