Zainab Gaschajewa: Als die Rakete in Grosny einschlug

Nr. 12 –

Tschetschenien gilt in der Schweiz als sicheres Herkunftsland – trotz Ramsan Kadyrows Terrorregime. Die Menschenrechtlerin Zainab Gaschajewa hat die Gräuel in ihrer Heimat dokumentiert und kämpft nun in der Schweiz für ihre Landsleute.

«Wir müssen viel mehr Menschen für die tschetschenische Realität ­sensibilisieren»: Zainab Gaschajewa in ihrer Wohnung in Bümpliz.

Über dem Sofa thront ein Tiger. Darunter sitzt Zainab Gaschajewa. Ein schwarzes Tuch mit roten Blumen in die Haare gebunden, wirft sie einen aufrechten und ebenso stolzen Blick in die Kamera.

Kaum ist das Foto im Kasten, eilt die 63-Jährige in die Küche, um neuen Tee aufzusetzen. Voller gläserner Nippes ist ihre Wohnung, auf der schwarzen Wohnwand reihen sich Familienfotos aneinander, der Sofaüberwurf glänzt weiss – tschetschenische Gemütlichkeit in Bümpliz. Doch der Frieden trügt.

Auf Gaschajewas Esstisch liegen Briefe, gestempelt in Moskau, aufgeladen mit Wut. Die Absender: drei tschetschenische Jugendliche, deren Fall derzeit für Aufsehen sorgt. Überfallartig sei ihre Ausschaffung gewesen, klagen sie die Schweiz an. Man habe sie zudem ohne die erforderlichen Papiere nach Russland zurückgeschafft und damit eine Verhaftung am Moskauer Flughafen bewirkt. Die Briefschreiber gehören zu Gaschajewas Familie: Es sind Kinder einer Nichte. Der kleine Bruder sowie die Mutter der Jugendlichen sind noch immer in der Schweiz. Beide befinden sich in psychiatrischer Behandlung, nachdem der Bub offenbar mit Selbstmord gedroht hat.

Der Tag, an dem sich alles änderte

Die Familie sei traumatisiert, sagt Gaschajewa. Der Vater hatte Separatisten geholfen und ist in Tschetschenien verschleppt worden. Das Staatssekretariat für Migration beurteilte das anders und lehnte das Asylgesuch der Familie im Flughafenverfahren ab. Kein Einzelfall: Die Aufnahmequote für tschetschenische Flüchtlinge liegt in der Schweiz bei knapp 27 Prozent – Ramsan Kadyrows Terrorrepublik wird mit Russland, zu dem sie offiziell gehört, gleichgesetzt und als sicheres Herkunftsland eingestuft. Politisches Asyl erhält nur, wer lückenlos aufzeigen kann, unter staatlicher Repression zu leiden.

Gaschajewa war vierzig Jahre alt und Mutter von vier Kindern, als sie politisch aktiv wurde. Damals lebte die studierte Ökonomin mit ihrer Familie in Moskau. Politik spielte eine marginale Rolle in ihrem geordneten Leben.

Bis die Rakete einschlug. Gaschajewa und ihr Mann verfolgten am tschetschenischen Fernsehen, wie das einzige Hochhaus Grosnys in Flammen aufging und der russische Sicherheitsrat Tschetschenien den Krieg erklärte: «Damit hatte keiner gerechnet», sagt Gaschajewa. «Selbst nach der russischen Invasion glaubten die meisten Tschetschenen noch, dass der Spuk bald wieder vorbei sein würde.» Gaschajewa selbst fuhr kurz nach der Kriegserklärung in ihre Heimat. Zumindest die Eltern wollte sie nach Moskau holen. Doch die Alten wollten Tschetschenien nicht verlassen.

Es ist der 11. Dezember 1994, als Gaschajewa ihren Sohn in Moskau anruft. Ruhig berichtet sie von der Lage in Grosny. Davon, dass keine Panik ausgebrochen sei. Der Sohn unterbricht sie: Die russischen Truppen seien längst unterwegs zur Grenze, Präsident Boris Jelzin habe den Befehl zur Invasion gegeben. «In Tschetschenien wusste man von diesem Befehl nichts», erinnert sich Gaschajewa. «Die Menschen waren völlig isoliert.» Was sie in dieser Zeit in Grosny erlebt, hebt ihre Welt aus den Angeln: «Was ich zu wissen glaubte über Krieg und Frieden – es galt danach nicht mehr.»

Am meisten erschütterte Gaschajewa das Fehlen jeglicher kriegsrechtlicher Schranken. Die TschetschenInnen hätten einen kurzen Krieg gegen die Separatisten erwartet. «Stattdessen musste ich mitansehen, wie Jugendliche versuchten, ihre Dörfer zu verbarrikadieren – um sie vor Angriffen zu schützen.»

Kampf gegen Ausschaffungen

Zurück in Moskau, geht Gaschajewa auf die Strasse, nimmt am Marsch auf Grosny teil, mit dem etwa tausend KriegsgegnerInnen gegen die russische Invasion demonstrierten. Das Militär stoppt den Marsch in Tschetschenien und bringt die Protestierenden in Bussen nach Inguschetien. Doch Gaschajewa reist zurück – sie hat vom ersten blutigen Überfall auf ein tschetschenisches Dorf gehört. Am Ort des Verbrechens liegen Leichen auf der Strasse. Und keiner ist da, um das zu dokumentieren. Zainab Gaschajewa zückt intuitiv ihren Block – es ist der Anfang eines Engagements, das irgendwann zu ihrem Auftrag wird.

In den kommenden sechzehn Jahren pendelt Gaschajewa zwischen Moskau und Tschetschenien, um die Gräuel der Tschetschenienkriege filmisch und fotografisch festzuhalten. Zusammen mit zwei Frauen gründet sie die Organisation Echo of War. Moskau wird zur Schaltzentrale: Hier knüpft Gaschajewa Kontakte, etwa mit der 2006 erschossenen Journalistin Anna Politkowskaja oder dem in der Ukraine getöteten Menschenrechtler Andrei Mironow. «Dass ich in Moskau lebte, war zentral», sagt sie in ihrer Bümplizer Wohnung. «So konnten wir das Filmmaterial aus Tschetschenien herausschmuggeln – und Aktivisten nach Tschetschenien bringen.»

Als 2010 im tschetschenischen Fernsehen gegen sie gehetzt wird und ein anonymer Anrufer sie mit dem Tod bedroht, kauft ihr Andrei Mironow ein Ticket nach Zürich. Die Schweiz war kein Zufallsziel: Die Menschenrechtlerin arbeitet seit Jahren mit der Berner Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker zusammen, die die gesammelten Zeugnisse von Echo of War archiviert. Seither lebe sie gedanklich jeden Tag in drei Ländern, sagt Gaschajewa. Sich in der Schweiz nicht mehr für Tschetschenien und einen Wandel in Russland zu engagieren, könne sie sich nicht vorstellen. Und doch, es ist schwierig: «Alle drei Jahre zusammen eine Hochzeit feiern», beschreibt sie die Aktivitäten der tschetschenischen Diaspora. «Es gibt kaum kulturelle oder politische Veranstaltungen. Mein Ziel ist es, das zu ändern: Wir müssen viel mehr Menschen für die tschetschenische Realität sensibilisieren.»

Immerhin hat die drohende Ausschaffung ihrer Verwandten mobilisiert: Am vergangenen Montag protestierten zahlreiche AktivistInnen aus Tschetschenien und der Schweiz vor den Kliniken, in denen Mutter und Sohn untergebracht sind. Die ÄrztInnen verweigerten ihr Okay für die Ausschaffung – vorerst zumindest.