DiEM25: Europa in Bewegung

Nr. 16 –

Um eine soziale Katastrophe zu verhindern, darf die EU als Kampffeld nicht preisgegeben werden. Das meint die vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis inspirierte Bewegung DiEM25. Doch welche Chancen hat ihr radikales Reformprogramm?

Kann man eine soziale Bewegung von oben herab gründen? Vielleicht, wenn man Yanis Varoufakis heisst. Der ehemalige griechische Finanzminister inspiriert und begeistert noch immer. Als er für den 9. Februar nach Berlin zur Gründung einer neuen demokratischen Bewegung für Europa rief, kamen viele Engagierte und MedienvertreterInnen.

«Die EU muss demokratisiert werden. Oder sie wird zerfallen!» lauten der Schlachtruf und das Manifest von Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25). Die Folgen eines EU-Zerfalls werden düster beschworen, als soziale Verelendung und Rückkehr des Faschismus. Dagegen propagiert DiEM25 Forderungen und Aktionen in drei zeitlichen Etappen. Erstens sollen alle Verhandlungen im EU-Rat und in der Zentralbank sowie die Verhandlungen um ein neues Transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP) ab sofort öffentlich geführt werden. Zweitens will DiEM25 innerhalb eines Jahres Alternativen zu den wichtigsten wirtschaftspolitischen Institutionen und Mechanismen der EU vorstellen, um die neoliberale Agenda abzulösen. Drittens soll bis in zwei Jahren eine verfassungsgebende Versammlung einberufen werden, die bis 2025 eine demokratische Verfassung ausarbeitet und einführt.

Die EU und die Transparenz

DiEM25 ist ein sperriger Name für eine soziale Bewegung. Überhaupt, das Unterfangen wirkt ein wenig abgehoben, wird vorab von Intellektuellen und LinkspolitikerInnen angeleitet. Nach dem Auftakt in Berlin erfolgte ein zweiter regionaler Gründungsakt am 23. März in Rom. Während in Berlin die Medienstars im Zentrum gestanden hatten, so bemühte man sich diesmal um eine Übung in Basisdemokratie, um ein formalisierteres Occupy-Meeting. Mittlerweile hat DiEM25 über 17 000 Mitglieder, überwiegend durchs Internet verbunden. Die anfänglichen Debatten zeigen ein breites Spektrum. Der deutsche grüne EU-Parlamentarier Sven Giegold wirft der Bewegung zu viel EU-Bashing vor; die britische grüne Parlamentarierin Caroline Lucas wünscht sich mehr ökologisches Bewusstsein. Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek erachtet die Initiative als zu wenig radikal, steht aber als Unterzeichner doch an vorderer Stelle. Aus Spanien verlangen linke Stadtabgeordnete eine Diskussion um eine weitere, regionale Ebene zwischen EU und Nationalstaat; der italienische Autonome Franco Bifo Berardi erhofft sich, dass eine neue Multitude, eine flexible Widerstandsbewegung entsteht, falls die EU zerfällt.

Freilich ist DiEM25 untrennbar mit der EU verknüpft. Die Bewegung nimmt von dieser ihren analytischen Ausgangspunkt, wählt sie als ihr Kampffeld und zielt auf ihre Umgestaltung ab.

Dabei sind die Mängel und Demokratiedefizite der Europäischen Union sattsam bekannt: schwaches Parlament, missachtete Plebiszite, eine technokratische EU-Kommission als zunehmend autoritäres Machtzentrum. Aber auch Angela Merkels unilateraler Flüchtlingshumanismus hat verbriefte Entscheidungsmechanismen ausgehebelt. Und jene rechtsstaatliche Institution wie der Gerichtshof der EU sowie die Europäische Sozialagenda, die noch am ehesten progressive Ansätze vertreten, geraten unter zunehmenden Druck nationalistischer Bewegungen.

Dennoch und gegen alle Skepsis plädiert DiEM25 für ein Bündel von Aktivitäten – dabei werden keine vorschnellen Abkürzungen vorgeschlagen, sondern kurz- und längerfristige, konkretere und grundsätzlichere Ansätze zusammengedacht, und immer wird der transnationale Aspekt im Auge behalten.

Kurzfristig konzentriert sich DiEM25 auf die Forderung nach durchgängiger Transparenz der EU-Politik. Dagegen hat sich explizit Slavoj Zizek gewandt, weil so rechtspopulistische Bewegungen die nationalen Regierungen unter den fremdenfeindlichen «Druck der Strasse» setzen könnten. Denn, meint er, «Leute wissen oft nicht, was sie wollen, oder wollen nicht, was sie wissen, oder sie wollen einfach die falschen Dinge». Ein altes Dilemma der Linken. Zur Erziehungsdiktatur will Zizek aber doch nicht zurück und fordert bezüglich jener Leute, die die falschen Dinge wollen: mehr Aufklärung! Was nicht ganz anders tönt als die Vorschläge von DiEM25.

Tatsächlich brauchen direktdemokratische Formen demokratische Voraussetzungen, wie die aktuelle Debatte in der Schweiz um die Instrumentalisierung der Volksinitiative zeigt. Dazu gehören: unabhängige Medien, eine Offenlegung des finanziellen Einsatzes im politischen Prozess, eine funktionierende Gewaltentrennung, ein halbwegs faires Bildungssystem.

Aufklärung vollzieht sich aber nicht nur abstrakt im Kopf, sondern auch in der konkreten Aktion. Die ausgeübte Demokratie macht DemokratInnen. Allerdings ist DiEM25 als erste Aktion nicht viel Originelles eingefallen: eine Petition für mehr Transparenz innerhalb der EU. Die ist bislang von gut 22 000 Leuten unterzeichnet worden. Angestrebt werden 100 000. Was beides bescheiden ist.

Demokratie in Aktion

Die EU selbst hat vor vier Jahren ein ambitiöseres direktdemokratisches Instrument eingeführt, die Europäische Bürgerinitiative (EBI). Wenn eine Million BürgerInnen das wollen, muss sich die EU-Kommission mit dem durch eine Initiative eingebrachten Thema beschäftigen. Die Themenwahl ist allerdings restriktiv, und die Initiative hat nur Anregungscharakter.

Aber die EBI hat eine Dynamik entwickelt, die über ihre Form und den institutionellen Rahmen hinausgeht. So ist die Initiative gegen das TTIP, das Transatlantische Freihandelsabkommen, als offizielle EBI gestartet worden; doch nachdem ihr die Kommission die Registrierung verweigert hat, wird sie weitergeführt und hat mit drei Millionen Unterschriften als Bewegung von unten den Druck gegen das Abkommen verstärkt und zur Verzögerung eines Vertragsabschlusses beigetragen. Unterschriftensammeln macht AktivistInnen.

Auch wenn die EU als hauptsächliches Kampfterrain gilt, kann DiEM25 den Nationalstaat als politischen Raum nicht ausklammern. Als Vermittlung beider Ebenen braucht es eine europaweite Öffentlichkeit. Die nationalen AkteurInnen brauchen Einsicht in den politischen Prozess in Brüssel, um mithilfe von Lobbyarbeit und öffentlichen Aktionen eingreifen zu können. Innerhalb der transnationalen Bewegung sollte gewährleistet sein, dass nationale Bewegungen angemessen repräsentiert sind. Auch hier ist die EBI anregend, weil sie mit Quoten und Quoren ausgeklügelt regelt, wann eine Bewegung für ein Konglomerat von 28 Staaten als repräsentativ angesehen werden kann.

An den Veranstaltungen und auf der Website von DiEM25 tauchen immer wieder ähnliche Formulierungen auf: Diese Initiative habe neue Hoffnung gegeben, neue Impulse vermittelt. Zwei Schwerpunkte dieses Aufbruchs zeichnen sich ab. Mit der Forderung nach mehr Transparenz lässt sich arbeitsteilig die Anti-TTIP-Bewegung unterstützen. Und das akademische Potenzial in den Reihen von DiEM25 lässt sich für konkrete Vorschläge einer alternativen Wirtschaftspolitik organisieren.

Womöglich wird DiEM25 keine grosse europäische Bewegung, sondern ein gediegener linker, transnationaler Thinktank. Was ja schon mal etwas wäre.

Stefan Howald: «Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen». Zürich 2014. Rotpunktverlag. 288 Seiten. 34 Franken. Das Buch kann auch im WOZ-Shop erworben werden.