24. Juni 1993: Als in Bern aus der türkischen Botschaft auf kurdische DemonstrantInnen geschossen wurde

Nr. 17 –

Ein Zeitdokument des Journalisten Irfan Dogan: Die Berner Untersuchungsbehörden hielten diese Aufnahme zwei Wochen lang zurück.

Im Hintergrund und an den Rändern: Blumen. Am Boden: Flugblätter. Und mittendrin dieser Mann.

Das eigentliche Zentrum des Bildes ist die Pistole, die der Botschaftsangestellte in der rechten Hand hält, gut sichtbar vor dem weissen Hemd. In ihrer Klarheit wirkt die Aufnahme wie aus einem Film von Michelangelo Antonioni. Gemacht hat sie am 24. Juni 1993 der damals dreissigjährige Irfan Dogan für die kurdisch-türkische Tageszeitung «Özgür Gündem».

An jenem Donnerstag wollten KurdInnen vor der türkischen Botschaft in Bern gegen die Massaker an KurdInnen in der Türkei demonstrieren. Dass Botschaftsangestellte in Bern auf Menschen schossen, zeigt, wie weit die Gewalt der türkischen Regierung gegen die kurdische Minderheit ging (und immer noch geht).

Das Bild erschien hierzulande nur in der WOZ. Susan Boos schrieb am 9. Juli 1993 über den Vorfall. So war zu erfahren, dass die Berner Polizei am 24. Juni drei Kurden festgenommen und acht Tage in U-Haft genommen hatte. Die Untersuchungsbehörden wollen vermutet haben, die drei – ein HTL-Student, ein Jazzstudent und ein Asylbewerber – seien wichtige Köpfe der kurdischen Partei PKK. Verdacht auf schwere Körperverletzung, Gefährdung an Leib und Leben, Hausfriedensbruch und Beschädigung von Privateigentum: Damit rechtfertigten sie die Festnahmen. Beweisen konnten sie nichts.

Dass in der Öffentlichkeit noch Wochen diskutiert wurde, ob die Schüsse tatsächlich aus der Botschaft abgefeuert worden waren, war nur möglich, weil die Fotos unter Verschluss gehalten wurden. Denn auch Dogan wurde zwölf Stunden festgehalten. Die Berner Beamten entwendeten ihm zwei Filmrollen mit weiteren Bildern – von einem auf dem Boden liegenden Verletzten und wie dieser von GenossInnen weggetragen wird. Auch über die Schüsse, die gleichentags aus dem türkischen Konsulat in Zürich auf DemonstrantInnen abgefeuert worden waren, herrschte Schweigen. Es sei ja nur in die Luft geschossen worden, hiess es bei der Bezirksanwaltschaft Zürich.

Erst durch die Unterstützung der Schweizerischen JournalistInnen-Union und weiterer Organisationen bekam Dogan nach zwei Wochen seine Fotos zurück. Ihre Veröffentlichung zeigte Wirkung: Die vier identifizierten Schützen wurden in die Türkei zurückbeordert. Der Botschaftsangestellte Kaya Toperi wurde von der Schweiz zur «Persona non grata» erklärt. Die Türkei zog ihr Botschaftspersonal zurück. Und die diplomatische Beziehung zwischen der Türkei und der Schweiz wurde für sechs Monate suspendiert. Doch auch für Dogan gab es Konsequenzen: Das türkische Konsulat entzog ihm den türkischen Reisepass.

Dogan lebt heute in Basel – als «einer von 1113 arbeitsuchenden Journalisten in der Schweiz», wie er selber sagt. «Als ich für den ‹Özgür Gündem› arbeitete, hörte ich von altgedienten Journalisten, dass ein Journalist immer Zeuge der Geschichte sei. Der 24. Juni 1993 war der Tag, an dem ich den Sinn dieser Worte herausgefunden habe.» – Der Tag, als neun Demonstranten von Schüssen aus der türkischen Botschaft getroffen wurden. Semsettin Kurt, einer von ihnen, verstarb noch am selben Tag.

Das Bild erscheint auch im neuen Buch «25 Jahre Swiss Press Photo». www.swisspressaward.ch

Verborgene Absicht?

Der Versuch, mit dem Artikel mit dem Titel «Als in Bern aus der türkischen Botschaft auf kurdische DemonstrantInnen geschossen wurde» von Adrian Riklin, in welchem ein Vorfall, der vor 23 Jahren erlebt und bereits ausdiskutiert wurde, jetzt wieder an die Tagesordnung zu bringen, zeigt eine verborgene Absicht, die nachdenklich macht.

Im Zusammenhang der Ereignisse vom 24. Juni 1993 ist es nicht möglich, von einer Gruppe zu sprechen, die sich vor der Botschaft versammelt hatte, nur um ihr Recht für eine friedliche Demonstration zu benutzen.

Einer der organisierten Angriffe gegen türkische Vertretungen in ganz Europa, die im Auftrag der Terrororganisation PKK durchgeführt wurden, war auch gegen unsere Botschaft gerichtet. Damals hat sich eine Gruppe von circa hundert Personen unbefugt vor unserer Botschaft versammelt. Sie sind mit Pflastersteinen, Baseballschlägern, Messern, Beilen und Molotowcocktails, die sie mitgebracht hatten, in unsere Botschaft eingedrungen, weil sie es damals ausnutzten, dass die hiesigen Sicherheitsbehörden nicht in der Lage waren, rechtzeitig und angemessen einzuschreiten. Die Angreifer sind in die Residenz des Botschafters eingefallen, haben das Leben des Botschafters sowie unserer Mitarbeiter bedroht, dabei zwei von ihnen verletzt, unser Gebäude sowie einige unserer Fahrzeuge beschädigt.

Die unter der Leitung von der terroristischen Organisation in Koordination tätige und aggressive Gruppe als eine unschuldige Gruppe, die nur ihre demokratischen Rechte ausübt, darzustellen, bedeutet daher nichts anderes als die Widerspiegelung einer romantischen Ansicht, die den Terrorismus und die Terroristen verherrlicht.

Wir betonen, dass unser Land den Kampf gegen den Terrorismus im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit entschlossen weiterhin führen wird, bis das Leben und das Eigentum unserer Staatsbürger voll unter Sicherheit gestellt werden.

Hiermit ersuchen wir Sie, die oben genannten Ausführungen im Prinzip einer wahren und objektiven Berichterstattung in Ihrer Zeitung zu publizieren, damit sich die Öffentlichkeit entsprechend richtig informieren kann.

Hochachtungsvoll
Botschaft der Republik Türkei in Bern (nachträglich unterzeichnet von Volkan Karagöz, Geschäftsführer a. i. der Botschaft der Republik Türkei)

Aus der Antwort der WOZ an die türkische Botschaft

Zu Ihrer Bitte, Ihre Ausführungen «im Prinzip einer wahren und objektiven Berichterstattung» in unserer Zeitung zu publizieren:
Bei den Verfahren gegen die KurdInnen, die am 24. Juni 1993 vor der türkischen Botschaft in Bern demonstriert hatten, wurde der Verdacht auf schwere Körperverletzung wie auch jener auf Gefährdung an Leib und Leben in allen Fällen nicht bestätigt. Tatsache ist, dass rund sechzig KurdInnen wegen Landfriedensbruch gebüsst wurden, da sie das Botschaftsgelände betreten hätten, einige von ihnen sollen zudem Steine geworfen haben.

Dass die ungleich schwerwiegenderen Handlungen der türkischen Botschaftsangestellten – Maschinenpistolenschüsse auf Demonstrierende, durch die acht Menschen zum Teil schwer verletzt und einer getötet wurde – nicht geahndet wurden, lag einzig an der di­plo­ma­ti­schen Immunität der Botschaftsangestellten. In einer Gerichtsverhandlung hatte laut der Berner Tageszeitung «Der Bund» der damalige Gerichtspräsident Ralph Hofer darauf hingewiesen, dass die Botschaftsangestellten auch dann noch in die Menge geschossen hatten, als die Berner Stadtpolizei die Lage längst unter Kontrolle hatte und sich die DemonstrantInnen auf der Flucht befanden: «Dass ein derart abscheuliches Verhalten aufgrund der diplomatischen Immunität nicht geahndet werden kann, dar­über kann man nur den Kopf schütteln», zitierte die Zeitung den Gerichtspräsidenten.

1997 bestätigte das Bundesgericht den Entscheid der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern, einem Kurden, der an der Demonstration vor der türkischen Botschaft durch eine Pistolenkugel einen offenen Unterschenkelbruch erlitten hatte, 2000 Franken Genugtuung zuzusprechen. Da er an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen habe, habe der Kurde zwar mit gewissen Risiken wie einem Polizeieinsatz samt Tränengas und Wasserwerfern rechnen müssen, so das Bundesgericht, nicht aber mit dem «völlig unangemessenen» Einsatz von Schusswaffen, der ein «schweres Verschulden» sei.

Falls Sie weiterhin davon ausgehen, dass die damaligen Schüsse der Botschaftsangestellten rechtsstaatlich korrekt waren und auch Ihr derzeitiger «Kampf gegen den Terrorismus im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit geführt wird», sodass Sie Ihre Ausführungen unverändert in der WOZ publizieren möchten, so ist dies möglich, wenn der Text persönlich unterzeichnet ist.

Adrian Riklin, WOZ-Inlandredaktor