Demenz: Glück stelle ich mir anders vor

Nr. 21 –

Immer wieder gibt es Stimmen, die behaupten, Demenz sei vor allem für die Umgebung schlimm, selber merke man sie ja bald einmal nicht mehr. Wirklich?

Demenz – das heisst Verlust der Kontrolle über sich selber, geistig und körperlich. Das kann ein langsamer, schleichender Prozess sein; es kann aber auch sehr schnell gehen. Die Folge davon ist Abhängigkeit – bis zum völligen Verlust der Selbstbestimmung. Eine indirekte Folge dieser Symptomatik könnte sein, so denke ich, dass viele Jüngere das Alter schon von vornherein mit Demenz gleichsetzen – und einen alten Menschen nicht mehr für voll nehmen.

Demenzkrank zu werden, ist die häufigste und grösste Angst alternder Menschen – das ist auch bei mir so. Ich kann mich zwar recht gut mit der Abnahme des Gedächtnisses abfinden, obschon es manchmal peinliche Situationen gibt. Meistens macht es mir aber nichts aus, ab und zu finde ich es sogar lustig. Mit dem Denkvermögen hat das Gedächtnis ja nicht zwingend zu tun, und Ersteres ist bei mir intakt – ich empfinde es sogar als eher klarer im Vergleich zu früher. Offensichtlich sehen das auch andere so: Ich werde mehrheitlich respektiert, wenigstens vorläufig noch.

Falscher Trost

Im physischen Bereich gilt der Respekt weniger: Ich empfinde es als Übergriff, wenn fremde Hände mich ungefragt packen und mir «helfen» wollen. Man traut mir anscheinend nicht mehr zu, dass ich selber auf mich aufpassen kann. Vielleicht ja dann auch einmal zu Recht? Die Übergänge sind fliessend, wer kann das so genau feststellen?

Wer weiss genau, wann Unzuverlässigkeit in Wirklichkeitsverlust übergeht? Es gibt messbare Grössen im Bereich der Demenzdiagnostik, Unterscheidungsmerkmale verschiedener Formen von Alzheimer- oder vaskulär bedingter Demenz. Die Erscheinungsbilder sind zwar verschieden – sie haben aber gemeinsam, dass sie die Autonomie vermindern bis zu deren totalem Erlöschen. Unheilbar sind sie alle.

Wenn man seine Angst vor Demenz äussert, bekommt man fast regelmässig die Antwort, schlimm sei sie ja vor allem für die Umgebung, selber merke man sie bald einmal nicht mehr. Als ob es ein Trost wäre, «nur» für seine Umgebung eine Last zu sein! Immerhin bin ich im Hinblick darauf ganz froh, alleinstehend zu sein und keine Angehörigen zu haben, die mich pflegen müssten. Professionelles Personal verdient wenigstens seinen Unterhalt damit und ist hierzulande auch geschult. Wahrscheinlich ist es auch von Vorteil, wenn man sich persönlich nicht allzu nahe steht.

Im Übrigen hege ich einige Zweifel, ob das mit dem Nicht-mehr-Merken stimmt. Erstens achte ich in der Angst davor ja gerade deshalb umso mehr auf alle Anzeichen. Zweitens nehme ich bei vielen AltersgenossInnen wahr, dass sie manchmal sehr lange und oft auch geschickt ihre Schwächen verstecken und überspielen. Und wenn es dann einmal so weit ist, dass auch das nicht mehr gelingen mag, sorgt die Umgebung schon dafür, dass man die eigene Verlorenheit nicht so gut vergessen kann: Sie entmündigt einen zunehmend, mit mehr und manchmal auch weniger Fingerspitzengefühl.

Ich weiss, manchmal bleibt nicht viel anderes übrig. Aber ich habe schon zu viele Greisinnen und Greise bitterlich über ihre Situation weinen sehen, als dass ich noch ans Nichtmerken glauben könnte. Auch dass manche bösartig werden, spricht nicht gerade dafür, dass sie nicht sehr darunter leiden würden.

Zurück in die Kinderstube?

Wie kann man überhaupt urteilen über Gefühle von Menschen, die sie nicht mehr ausdrücken können? Zugegeben, manche sehen recht zufrieden aus, zum Beispiel im Film «Glück hat viele Gesichter». Auch im Rahmen meiner beruflichen Kontakte in Pflegeheimen habe ich manch fröhliche Runde mit DemenzpatientInnen erlebt. Trotzdem hat mich der Film schockiert: Glück stelle ich mir anders vor. Vor allem finde ich Ballungen von schwerkranken Menschen erschreckend. Etwa zehn teils unruhige, teils apathische Menschen (die aggressiven fehlten in dem gezeigten Filmabschnitt) in zwei eher kleinen Räumen nebst einem halben Dutzend PflegerInnen – ein Zukunftsbild, das mich in die Arme der Sterbehilfeorganisation Exit treiben würde. Rechtzeitig, wohlverstanden!

Nichts gegen die Pfleger und Pflegerinnen! Sie sind durchwegs liebevoll und einfühlsam. Aber sie wussten schliesslich auch, dass sie gefilmt wurden – im Gegensatz zu den Pfleglingen. Ich nehme an, die Hygiene stimmt in dieser Institution, sodass die Assoziation «Stall» fehl am Platz ist. Andererseits habe ich in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass mit der Einsparung von Personal und einer allgemeinen Bürokratisierung immer mehr Zeit für persönliche Kontakte fehlt – und auch für die Hygiene.

Aber ich würde als Vergleich trotzdem eher eine Kinderstube herbeiziehen. Das ist auch ein tröstliches Bild: Kinder sind gern in Gesellschaft und haben keine Angst vor Tuchfühlung, wenigstens die meisten. Vielleicht ist das tatsächlich im Alter wieder so? Für mich kann ich es mir nicht vorstellen, zu sehr bin ich das Alleinsein gewöhnt. Was tut man also mit denen, die solche Enge nicht ertragen? Es dürfte selbst in einer Luxusgesellschaft wie der unseren unmöglich sein, für jedeN eine überzeugende Lösung zu finden. Ich selbst jedenfalls kann mir keine auch nur einigermassen befriedigende vorstellen.

Was ich mir wünschen würde

Ich versuche zu formulieren, was ich mir wünschen würde (ausser natürlich, nicht demenzkrank zu werden!):

  • einen hellen Raum, Platz zum Atmen und Bewegen
  • Hilfe, so viel wie nötig (nicht nur, damit es schneller geht)
  • Sauberkeit
  • Beachtung meiner Wünsche, auch wenn sie nicht erfüllbar sind
  • Menschen, die mit mir reden ohne Herablassung und ohne billigen Trost
  • Vermeiden von Blossstellungen
  • keinen Zwang, wenn ich mich entschliessen sollte: zum Beispiel, nicht mehr zu essen, nicht mehr zu leben
  • vor allem: Respekt! Respekt vor dem, was ich war: ein selbstständiger Mensch, der seinen Platz im Leben ausfüllte. Und Respekt vor dem, was ich bin und bleibe: ein Mensch, von Gott geschaffen und geliebt.

Leni Altwegg (91) war reformierte Pfarrerin. Bereits in den sechziger Jahren mischte sie sich in die Gesellschaftspolitik ein. Sie war unter anderem in der Antiapartheidbewegung (Südafrika) aktiv. Ihr politisches Engagement brachte ihr auch eine Fiche des Schweizer Staatsschutzes ein.

Demenz und Menschenwürde

In der Schweiz leiden über 100 000 Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Was heisst das für Angehörige? Wie sieht es in den Pflegeheimen aus? Wie dringend braucht es eine Diskussion über den begleiteten Freitod von Demenzkranken? In einer Serie beschäftigen sich diverse ­Autorinnen mit diesen Themen. Alle Texte waren für das Buch «demenz. Fakten Geschichten Perspektiven» vorgesehen – wurden wegen Meinungsverschiedenheiten zum Thema Exit jedoch nicht veröffentlicht.

Die Bilder zur Serie entstammen der Zusammenarbeit der Künstlerin Regine von Felten mit ihrer an Demenz erkrankten Grossmutter unter dem Titel «Pilze haben keine Blätter». Die Grossmutter bearbeitet die Fotos, die ihre Enkelin von ihr macht.