Russische Geschichtspolitik: «Danke, Opa, für den Sieg»

Nr. 23 –

Die patriotische Aufladung der Geschichte ist ein wichtiges Herrschaftsinstrument des Putin-Regimes. Ein Lichtblick ist das kürzlich eröffnete Gulag-Museum in Moskau, auch wenn die Aufarbeitung der stalinistischen Repression auf halbem Weg stehen bleibt.

Auf der roten Flagge prangen Hammer und Sichel. «Kein Faschismus» steht auf einem Transparent. Auf einem anderen: «Wir brauchen keine alternative Geschichte». Zum Protest gerufen hat die Nationale Befreiungsbewegung Russlands (NOD). Das Dutzend AktivistInnen läuft gegen einen SchülerInnenwettbewerb in Moskau Sturm. Es geht dabei um Geschichte, um die sowjetischen Arbeitslager, Deportationen, den Zweiten Weltkrieg. Als die aus allen Winkeln des Landes angereisten TeilnehmerInnen und die Mitglieder der Jury an den Protestierenden vorbei zur Preisverleihung ins Haus des Kinos wollen, hagelt es obszöne Beschimpfungen. Die ultranationalistischen, kremltreuen NOD-Leute werfen Eier und schütten den Menschen Seljonka, ein grünes Antiseptikum, ins Gesicht.

Beklemmende Gedenkstätte

«Die Demonstranten halten uns für Volksfeinde», sagt Valentin Vorobjow. Er ist sechzehn Jahre alt, reiste extra aus der in der Wolgaregion gelegenen Teilrepublik Udmurtien in die russische Hauptstadt. Der Teenager hat sich fein gemacht und wartet nun aufgeregt vor dem Saal, in dem die Preise des Wettbewerbs verliehen werden, den die Nichtregierungsorganisation Memorial (vgl. «Memorial unter Druck» im Anschluss an diesen Text) heuer zum 17. Mal organisiert. Er hat das Schicksal ungarischer Kriegsgefangener recherchiert, die in der Nähe seines Heimatdorfs interniert waren und Zwangsarbeit in der Holzindustrie und beim Bau eines Zirkus leisten mussten. Xenia Tschinokalowa hat sich hingegen mit der Geschichte ihrer eigenen Familie beschäftigt. Neben sich hat die Schülerin aus St. Petersburg einen schwarzen Baum aus geflochtenem Draht aufgestellt. Daran hängen Porträtfotos ihrer Verwandten. Aufgrund ihrer aristokratischen Herkunft hätten sie nach der Oktoberrevolution ihren ganzen Besitz verloren, erzählt die Fünfzehnjährige. Von den DemonstrantInnen vor der Tür lässt sie sich nicht abschrecken. Diese Leute hätten keine Ahnung von russischer Geschichte, sagt sie mit einem Schulterzucken.

Für die Erinnerung an die Opfer politischer Repression gibt es in Russland kaum Platz. Eine der wenigen Ausnahmen neben dem Geschichtswettbewerb ist das staatliche Gulag-Museum, das im Herbst in Moskau neu eröffnet wurde. Eine beklemmende Gedenkstätte: Nach Betreten der Ausstellung ist als Erstes zu hören, wie eine schwere Tür knarrend ins Schloss fällt. Ein Riegel wird vorgeschoben. In der Ecke der aufgemalten Gefängniszelle steht eine Pritsche. Auf engstem Raum wurden die Menschen nach ihrer Verhaftung zusammengepfercht, bevor sie auf das riesige Netz von Zwangsarbeitslagern verteilt wurden, das sich über die ganze Sowjetunion spannte.

Als Nächstes führt der Museumsrundgang zu Schaukästen. Darin sind Gegenstände ausgestellt, die in den Lagern angefertigt wurden: Stoffmasken aus Bettwäsche gegen die Kälte, Teegeschirr aus Konservendosen, mit Lagermotiven bestickte Servietten, Zeichnungen, auf Holzstücke geschriebene Briefe. Dahinter, auf einer riesigen Leinwand, ziehen Aufnahmen endloser Wälder und kahler Felslandschaften vorbei. Dazwischen Minenschächte aus Holz und halb verfallene Baracken: die heute noch sichtbaren Überreste der Lager im Fernen Osten Russlands. Im nächsten Raum werden historische Fernsehbilder einer weinenden Menschenmenge nach Josef Stalins Tod 1953 gezeigt. Dazu erzählen ZeitzeugInnen in Interviews, was sie bei der Nachricht vom Tod des Diktators empfanden. Während einige von Trauer berichten, spricht aus anderen noch heute die Freude darüber, dass sein Tod für sie die Heimkehr aus dem Gulag bedeutete.

Die unter Stalins Schreckensherrschaft verübten Verbrechen, denen Schätzungen zufolge mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen, sind in der Ausstellung unbestritten. Einiges werde allerdings relativiert und abgeschwächt, kritisiert die Historikerin Irina Scherbakowa von Memorial, einer der wichtigsten Organisationen in Russland zur Aufarbeitung des Gulag. Tod, Krankheit und Gewalt im Lager werden kaum erwähnt. Stattdessen finden sich lange Statistiken zur wirtschaftlichen Produktionsleistung der Lager. Die Schicksale hinter den berührenden persönlichen Objekten bleiben im Dunkeln. Wo einzelne Biografien in den Vordergrund gerückt werden, sind es solche von Personen wie dem Konstrukteur der legendären Sojus-Raketen, Sergej Koroljow, die nach ihrer Freilassung aus dem Gulag Grosses für die UdSSR leisteten. Die aufwendig konzipierte Ausstellung hinterlasse bei ihr den Eindruck, Russland habe diesen Teil seiner Geschichte längst erfolgreich überwunden – dies sei jedoch ein Irrtum, meint Scherbakowa.

Stalin, der effektive Manager

Trotzdem sind solche Gedenkstätten in Russland eher untypisch. Museen zelebrieren sonst lieber Stärke, Sieg und Heldenmut. Ein Narrativ, das laut Scherbakowa gerade für die junge Generation attraktiv ist. Viele preisen Stalin als effektiven Manager für die Schaffung eines starken und mächtigen Staates. Das habe den Sieg der UdSSR im Grossen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg hier heisst, über den Faschismus überhaupt erst möglich gemacht, lautet eine populäre Meinung. Bis in den Alltag hinein setzt sich die Stalin-Renaissance fort. Souvenirläden verkaufen T-Shirts mit einem Jugendfoto des Diktators und der Aufschrift «Stalin war ein Hipster», und mit einer App fürs Smartphone kann dem eigenen Selfie ein typischer Stalin-Schnurrbart verpasst werden. JedeR Vierte ist heute davon überzeugt, dass es unter Stalin mehr gute als schlechte Zeiten gab, 1999 waren es noch neunzehn Prozent. Repression und Terror seien notwendige Übel gewesen, die Verurteilten seien doch irgendwie schuldig gewesen, ist oft zu hören.

Seit der Wahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten im Jahr 2000 hat der Kreml ein lebhaftes Interesse an Geschichtspolitik entwickelt. Herrschte zuvor Angst vor einer Rückkehr der KommunistInnen an die Macht, wurde nun zusehends ein starker Staat beschworen und die Sowjetunion in ein positives Licht gerückt. «Geschichte ist heute in Putins Russland ganz klar Gegenstand der Politik», sagt Leonid Katswa, der an einem Moskauer Gymnasium Geschichte unterrichtet. Der stalinistische Terror werde zwar nicht negiert, dafür aber erklärt und gerechtfertigt: Die UdSSR habe sich damals in einer schwierigen Lage befunden und sich zahlreicher Feinde erwehren müssen, ist in einigen Schulbüchern zu lesen.

Für die Verbreitung von patriotischem Gedankengut sorgen kremltreue Jugendorganisationen wie die «Junge Garde» der Regierungspartei Einiges Russland. Ob Stalin richtig oder falsch gehandelt habe, darauf will sich Jegor Litwinjenko, Mitglied im Koordinationsrat der Jungen Garde, aber lieber nicht festlegen. Er habe damals nicht gelebt und könne die Frage daher nicht beantworten, meint der 24-Jährige. Tief beeindruckt hätten ihn jedoch die Erlebnisse seiner Urgrossväter im Grossen Vaterländischen Krieg und beim Sturm auf Berlin 1945, erzählt er. Die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee vereinige alle in Russland lebenden Menschen. Untrennbar sei die Geschichte des Landes damit verbunden, meint Jungpolitiker Litwinjenko und schwärmt vom «Tag des Sieges», der alljährlich am 9. Mai gefeiert wird.

Entpolitisierte Erinnerung

Anfang Mai wird Moskau jeweils zu einer einzigen grossen Gedenkstätte. Dem «Tag des Sieges» ist kaum auszuweichen: Autos tragen Aufkleber mit der Aufschrift: «Danke, Opa, für den Sieg» oder «Auf nach Berlin». Einige haben für ihr Autodach einen Panzerturm aus Pappmaché gebastelt. Im Café trägt die Bedienung olivgrün, auf dem Kopf ein braunes Käppi mit rotem Sowjetstern. Militärparaden und Veteranenaufmärsche finden statt. Zehntausende der orange-schwarzen St.-Georgs-Bänder, das Symbol des Sieges von 1945, werden kostenlos verteilt. Viele tragen sie an Jacke, Tasche oder am Fahrrad.

Der Übergang von der Erinnerung zum Kommerz ist fliessend: Wodka mit orange-schwarzer Etikette wird verkauft, es gibt Babystrampler im Uniformlook, Nachtclubs werben für den «Tanz des Sieges». Mit ihrer Politik habe die russische Regierung erreicht, dass individuelle, familiäre Erinnerungen entpolitisiert worden seien, meint Historikerin Scherbakowa.

Auch in den Arbeiten des SchülerInnenwettbewerbs würden Familienschicksale tragisch geschildert. Doch statt darüber hinaus das damalige Regime kritisch zu hinterfragen, griffen die SchülerInnen zu patriotischen Parolen. Der Sieg über die Faschisten und die Effizienz Stalins würden beschworen.

Am SchülerInnenwettbewerb im Haus des Kinos wartet Nikolaj Kolesnikow gemeinsam mit zwei Klassenkameradinnen auf den Veranstaltungsbeginn. «Natürlich waren die Repressionen während der Stalin-Zeit schlecht», meint der Siebzehnjährige aus Nischni Nowgorod, dessen Urgrossvater zusammen mit weiteren Familienmitgliedern unter Stalin ins Baltikum deportiert wurde und deren Geschichte er nun für den Wettbewerb aufgearbeitet hat. Stalin habe aber die Faschisten besiegt und Russland vorangebracht. «Er hatte gute und schlechte Seiten. Wie jeder Mensch», erklärt der Schüler unter zustimmendem Nicken seiner Kolleginnen.

Memorial unter Druck

In der Menschenrechtsorganisation Memorial versammelten sich ab 1987 ehemalige Lagerhäftlinge und politische DissidentInnen. Prominentestes Mitglied war der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Sie forderten unter anderem die Öffnung der KGB-Archive. Seit Putins Rückkehr in den Kreml 2012 werden die Räume für eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit jedoch zunehmend enger. Restriktive Gesetze führen dazu, dass NGOs, die Gelder aus dem Ausland annehmen, auf einer Liste «ausländischer Agenten» landen.

Zurzeit stehen 130 Organisationen unter Beobachtung, darunter auch mehrere Mitgliedsorganisationen von Memorial.