Von oben herab: Loch der Emotionen

Nr. 23 –

Stefan Gärtner über das Lob auf den Tunnel

Es ist ein Segen, dass mein herrliches Vaterland letzthin so rundheraus unfähig gewesen ist, mit sog. Grossprojekten zurande zu kommen, seis mit der Hamburger Elbphilharmonie oder dem Berliner Flughafen, und Stuttgart 21 wird natürlich gleichfalls viel später fertig werden und dann sehr viel teurer geworden sein. Denn wäre das Reich zu allem Überfluss noch so präzis und pünktlich wie die Schweiz und wäre Philipp Loser nicht Redaktor beim «Tages-Anzeiger» (Zürich), sondern bei der «Tageszeitung» (Berlin), dann ginge, etwa nach der erfolgreichen Untertunnelung der Alpen, Deutschland wieder über alles: «Ach, Deutschland – ach, wir Deutsche. (…) All die Worte über den ‹historischen Tag›, das ‹Jahrhundertbauwerk›, den ‹Stolz› und die ‹Freude› nutzten sich in der Wiederholung etwas ab. Aber sie bleiben wahr: Das war ein grosser Tag für Deutschland. Es war ein deutscher Tag», und wie schrecklich solche Tage sind, sieht, wer will, alljährlich am 3. Oktober in der «Tagesschau».

Aber nun war es ja ein Schweizer Tag, und eben auch darum, weil das nationale Klischee so restlos in die Realität gefunden hat: ein pünktlich fertiggestellter Riesentunnel, der kaum einen Rappen mehr gekostet hat als veranschlagt und den grossen Bruder auch noch die Schlusssignale sehen lässt, und zwar auf allen Gleisen: Denn anders als bei deutschen Quatsch- und Gaunerprojekten wie der Hamburger Pfeffersackphilharmonie oder dem Stuttgarter Bahnhofswahnsinn, der hauptsächlich Spekulanten und Bauunternehmer glücklich macht, lässt sich gegen den neuen Gotthardtunnel allenfalls einwenden, dass man für zwölf Milliarden Franken auch Kindergärten oder Sozialwohnungen hätte bauen können. Davon abgesehen ist mehr Schiene eigentlich immer besser, und wenn die «Daily Mail» vielleicht ausnahmsweise recht hat und der neue Tunnel Jahr für Jahr eine Million Lkws von der Strasse bringt, dann will ich mich nicht schämen fürs Staunen darüber, was Menschengeist und Menschenkraft auch im Guten zu bewerkstelligen in der Lage sind.

Der Vergleich mit den Deutschen ist der Schweiz, wie es aussieht, jedenfalls der wichtigste, und man durfte den Eindruck haben, dass sie auf das Lob der deutschen Kanzlerin so bang gewartet hat wie ein Schüler aufs Prüfungsergebnis: «Wir nehmen», schrieb «Blick»-Chef Peter Röthlisberger erleichtert, «auch den viel bemühten Vergleich mit dem Uhrwerk gerührt hin. Und staunen angesichts (…) Angela Merkels Lob (‹Wunderwerk der Technik›) über das zumindest indirekt angedeutete Unvermögen, selbst Grossbauprojekte durchzuziehen. Etwa einen Flughafen. Unsere Tunnelplaner brächten sicher auch dieses Projekt zum Fliegen. Man müsste sie nur fragen. Aber klar ist es schwierig, unsere Emotionen für ein Loch, das während 57 Kilometern gleich aussieht, rational zu erklären. Eigentlich geht das nicht, man muss es spüren.»

Emotionen für ein Loch, die man spüren muss – sparen wir uns freudianische Deutungen, obzwar es auch im «Tagi» nicht zu überlesen war, welche gleichsam nationalerotische Bedeutung dieser helvetische Urakt der Bergbezwingung hat: «Der Höhepunkt eines Schweizer Festes: ein Bild zweier Züge, die gleichzeitig in einen Tunnel fahren (darum heisst es also ‹ferrophil›).» In der Erwachsenenabteilung des Internets heisst das noch einmal anders, aber das ist eine andere Geschichte und muss auch ein andermal nicht unbedingt erzählt werden.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.