Sachbuch: Verwalten statt den Mond besiedeln

Nr. 25 –

In seinem neuen Buch «Bürokratie» sucht der anarchistische US-Anthropologe David Graeber nach einer «Utopie der Regeln».

Um zu bekommen, was wir wollen, sind wir am Telefon oft gezwungen, einen komplexen Parcours von Weiterschaltung zu Weiterschaltung zu durchlaufen – Kafka ohne den morbiden Glamour der Moderne. Für den anarchistischen Anthropologen David Graeber, Autor des Bestsellers «Schulden», ist die Warteschlaufenmusik jedoch mehr als ein alltägliches Ärgernis: In ihr zeigt sich die «totale Bürokratisierung» unserer Zeit. Ihr hat er sein neustes Buch, «Bürokratie. Die Utopie der Regeln», gewidmet.

Die ebenso populäre wie populistische Kritik an der Staatsbürokratie speist sich bis heute aus einem Grundverdacht: dass die staatliche Verwaltung, würde sie endlich nach ökonomischen Vorgaben gründlich rationalisiert, sich letztlich als vermeidbare Verschwendungsmaschine entpuppen würde. Graeber widerspricht dem: Gerade neoliberale Bestrebungen, staatliche Institutionen wie Spitäler und Schulen marktförmiger zu organisieren, hätten zu einem absurden Ausmass an Verwaltungsarbeit geführt. Der Drang, alles «rechenschaftspflichtig» zu machen, generiere nur neue bürokratische Auswüchse. Graeber fordert deswegen eine Bürokratiekritik von links – mag sie aber selbst nicht liefern: Sein Buch, räumt er ein, sei «kein Entwurf einer solchen Kritik». Als Leser fühlt man sich nach einer fulminanten Einleitung in die falsche Abteilung des Ministeriums für politische Fragen weitergeleitet, nach einer geschlagenen Stunde am Hörer.

Fantasy als Trick

Was das Buch dennoch lesenswert macht, sind Graebers Analysen der Popkultur. An Batman, Monsterordnungen, «Star Trek» und James Bond arbeitet er ein bürokratisches Imaginäres heraus, um die Gründe dafür zu finden, weshalb wir die Bürokratie insgeheim lieben. So haben sich laut Graeber fast alle, die eine utopische Vision verfolgten, eine Ordnung gewünscht, in der die Vernunft über das Chaos siege. Im Gegensatz dazu sei die heutige Fantasyliteratur grundlegend antibürokratisch ausgerichtet. Sie verkörpere eine rein «heroische Gesellschaftsordnung», in der Rache, Duelle und Intrigen die Machtverhältnisse permanent verschöben.

Doch Graeber ist weit davon entfernt, den Fangemeinden von «Game of Thrones» und Harry Potter politische Absolution zu erteilen und Mittelaltermärkte zu Widerstandsnestern gegen die Bürokratie zu erklären. Vielmehr funktioniere die Welt der Fantasy als «ideologischer Trick»: Zunächst diene sie der Realitätsflucht, gleichzeitig aber auch der Beruhigung, «dass eine langweilige, verwaltete Welt unterm Strich vermutlich jeder vorstellbaren Alternative vorzuziehen» sei. So nehme uns Fantasy die Lust, aus dem «game» mit seinen Spielregeln auszusteigen und uns dem «play», dem freien Spielen, hinzuwenden: zu improvisieren ohne permanentes Abwägen allfälliger Rationalitäten und zugleich neue Regeln zu erfinden.

Statt einer Analyse der Bürokratie hat Graeber also ein Plädoyer für das politische Spielen geschrieben. Er gräbt dafür auch Slogans vom Mai 1968 wieder aus: «Sei realistisch: Verlange das Unmögliche!» Parolen wie diese erhebt er zu noch immer gültigen Grundsätzen, um den Forderungen der New Economy nach «Kreativität» und «Innovation» etwas tatsächlich Utopisches entgegenzusetzen.

Träumende Börsen

Im emphatischen Bezug zu den vergangenen Boomjahren liegt aber auch die Hauptschwäche des Buchs. Mit dem Aufstieg der Finanzwirtschaft seit den 1970er Jahren ist laut Graeber eine grundlegende Verlagerung einhergegangen: Habe man sein Geld zuvor in alternative Zukunftswelten gesteckt, sei danach in Technologien investiert worden, die Arbeitsdisziplin und soziale Kontrolle sichern sollten. Seither sei unser Alltag geprägt von «bürokratischen Technologien», dem permanenten Beurteilen, Überprüfen und Transparentmachen. Diese Praktiken beschreibt er als genuin fruchtlos, weil sie Existierendes nur verwalten und überwachen – und so gesellschaftliche Innovation verhindern. Ihrer Dominanz sei es geschuldet, dass die technologischen Utopien der 1960er Jahre noch immer nicht verwirklicht worden seien. Kurz: Bis zur Liberalisierung der Finanzmärkte 1973 wagten Staat und Kapital noch zu träumen, danach gings nur noch um Monitoring statt um Mondkolonien und um Futures an den Börsen statt Futurologie. Wahrhaft «poetische Technologien» hingegen wie der Bau von neuen Städten, Marskolonien und fliegenden Autos seien verschwunden, ja undenkbar geworden.

Selbst das Internet deklassiert Graeber als blosse «weiterentwickelte Bibliothek» und als reines Spin-off eines militärischen Projekts. Ironischerweise romantisiert er mit seiner Nostalgie für die Sixties selbst den militärisch-industriellen Komplex des Kalten Krieges – und verweigert sich zugleich einer fantasievoll-emanzipatorischen Aneignung real existierender Fortschritte in der Gegenwart.

David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Henning Dedekind. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2016. 329 Seiten. 30 Franken