Altersvorsorge: AHV: Der Angriff der Verfressenen

Nr. 27 –

Kürzlich hörte ich von einer Frau – nennen wir sie Madame X. –, die ein paar Freundinnen in ein Nobellokal eingeladen hatte. Titel der Veranstaltung: «Meine erste AHV verfressen». Aufgrund ihres Status (Ehefrau eines reichen Geschäftsmanns) könnte es sich dabei um eine Rechnung von etwa 1750 Franken gehandelt haben – das ist die Hälfte des Maximalbetrags, den ein Ehepaar von der AHV erhält.

Nichts gegen die Frau; nichts dagegen, dass sie ihr erstes AHV-Geld mit Freundinnen «verfressen» hat. Es sei ihnen gegönnt. Interessant ist die Episode, weil sie etwas über die Altersvorsorge erzählt. Für Madame X. ist der monatliche Betrag aus der AHV nicht mehr als ein «Batzeli». Für grosse Teile der Bevölkerung aber hat die AHV existenzielle Bedeutung: Was Madame X. und ihre Freundinnen an einem Abend «verfressen», muss vielen für den Lebensunterhalt während eines ganzen Monats reichen.

Nun aber wollen wohlsituierte VolksvertreterInnen weniger privilegierte SeniorInnen mit noch weniger Geld über die Runden schicken. Mit dem Argument, dass wegen der demografischen Entwicklung immer weniger junge Erwerbstätige für immer mehr alte Menschen zahlen müssten – und die AHV bei einer Anpassung an die Lohnentwicklung der letzten zwanzig Jahre nicht mehr zu finanzieren wäre.

In der Debatte um die AHV zeigt sich, wie sehr sich das politische Wetter seit den eidgenössischen Wahlen im vergangenen Herbst verändert hat. Hatten die moderaten bundesrätlichen Vorschläge zur Rentenreform «Altersvorsorge 2020» bis dahin realistische Chancen, drohen jetzt gar diese im rechtsbürgerlich dominierten Parlament durchzufallen. Selbst die Eidgenössische AHV/IV-Kommission empfiehlt dem Bundesrat (erstmals überhaupt), die AHV- und IV-Renten auf Anfang 2017 nicht zu erhöhen. Begründung: die derzeit negative Teuerung und die schwache Lohnentwicklung.

Dabei wird ausgeblendet, dass die Rentenumwandlungssätze bei den Pensionskassen gesenkt werden wie noch nie, sodass die heute Erwerbstätigen viel weniger als vorgesehen für das erhalten werden, was sie einbezahlt haben. Besonders prekär ist die Situation für Teilzeitarbeitende im Dienstleistungsbereich (vor allem Frauen), für die aus der zweiten Säule wenig bis gar nichts herausspringt. Kommt hinzu, dass die Renten längst nicht mit der Lohnentwicklung mithalten: Heute muss ein Rentner zwei Drittel einer AHV-Maximalrente (2350 Franken) allein für Wohnungsmiete und Krankenkassenprämie aufwenden – vor vierzig Jahren war es noch die Hälfte. Rund dreissig Prozent aller RentnerInnen sind bereits auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Nichtsdestotrotz will die neue Rechtsmehrheit im Nationalrat, bestehend aus FDP und SVP, auch den Zuschlag von sechs Prozent bei der AHV abschmettern, womit der Ständerat die Senkung des Umwandlungssatzes kompensieren wollte – der Gewerkschaftsbund spricht von einem «Rentenmassaker».

Das Parlament riskiert damit einen Verfassungsbruch. Die Bundesverfassung verlangt, dass jedeR Erwerbstätige im Alter von den Renten der ersten und zweiten Säule anständig leben kann («Fortsetzung des gewohnten Lebens in angemessener Weise»). Daraus folgt: Wenn die Leistungen der zweiten Säule schlechter werden, müssen die Leistungen der ersten Säule verbessert werden. Wenn nun aber das Parlament ausgerechnet die AHV, die wichtigste sozialpolitische Errungenschaft der modernen Schweiz, zu schwächen gedenkt, gefährdet dies das Prinzip des sozialen Ausgleichs.

Es liegt nun an den Stimmberechtigten, zu verhindern, dass immer noch mehr Menschen in die Altersarmut rutschen: Am 25. September – noch bevor das Parlament über die Rentenreform 2020 entscheidet – wird über die AHV-plus-Initiative abgestimmt, für die der Gewerkschaftsbund dieser Tage die Kampagne lanciert hat. Die Initiative verlangt eine Erhöhung der AHV-Beiträge um zehn Prozent (2400 Franken pro Jahr für Alleinstehende, 4200 Franken für Ehepaare), finanziert durch 0,8 zusätzliche Lohnprozente, die je zur Hälfte von den Angestellten und den Unternehmen einbezahlt werden.

Und Madame X.? Gerne kann sie auch danach mit ihren Freundinnen fein essen gehen. Jeden Monat. Oder auch mehr. Vielleicht schmeckts dann gar noch besser.