Die Wirtschaftspolitik der AKP: Ein Umverteilungskampf bis die Konkurrenz am Boden liegt

Nr. 31 –

Mit so manchen materiellen Zugeständnissen konnte sich die Regierungspartei die Zustimmung eines grossen Teils der türkischen Bevölkerung sichern. Doch ihr Modell steht auf einem wackligen Sockel.

Seit dem gescheiterten Militärputsch hat die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdogan einen Konterputsch vollzogen, bei dem sie auf die Unterstützung grosser Teile der Bevölkerung zählen kann. Diese breite Zustimmung hat sich die Regierung über die Jahre mithilfe einer Reihe materieller Verteilmechanismen sichern können: Sie vergab Hilfsleistungen über regierungsnahe Sozialfonds, schaffte konfessionelle Privilegien für SunnitInnen und verteilte Gewinne aus der Gentrifizierung der Städte. So gelang es der Partei, ihren islamistisch durchwachsenen neoliberalen Autoritarismus aufrechtzuerhalten.

Das Modell steht wirtschaftlich allerdings auf einem instabilen Sockel: Die mit Krediten und Investitionen – vor allem aus der EU – finanzierte Schuldenökonomie des Landes steckt voller Risiken. Entgegen aller Rhetorik von einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht wurde die türkische Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt immer mehr von der Aussenwelt abhängig. Private Unternehmen verschuldeten sich massiv im Ausland und haben nun zunehmend Mühe, diese Schulden zurückzuzahlen. Zudem sollen rund achtzig Prozent der Privathaushalte inzwischen Schulden bei Banken haben.

Nach dem Putschversuch hat sich der Druck auf die türkische Lira erhöht, kurzfristige Kapitalanlagen, die zur Schuldenrefinanzierung unerlässlich sind, flossen ab. Und trotz aller Beteuerungen der Regierung, der ausgerufene Ausnahmezustand werde wirtschaftsfreundlich gestaltet, haben mehrere internationale Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit der Türkei mittlerweile zurückgestuft.

Auf dem Weg zur «Grossen Türkei»

Viele ÖkonomInnen glauben deshalb, es sei bloss noch eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaft einbrechen wird, und rechnen mit einer gewaltigen Pleitewelle. Doch dass mit dem Einbruch der Wirtschaft auch die Zustimmung zur AKP in der Bevölkerung automatisch sinken würde, ist fraglich. Gegen wen sich ihr Unmut tatsächlich richten wird – ob ausländische VerschwörerInnen, korrupte und gierige Einzelpersonen, eine Klasse oder ein System –, das hängt davon ab, welche Erklärung sich in einer möglichen Krise wirksam verbreiten lässt.

Weil der politische Islam über ein breit gefächertes ideologisches Netzwerk verfügt, spielt er in dieser Hinsicht eine ausserordentlich wichtige Rolle. Wie effektiv die AnhängerInnen mobilisiert werden können, zeigte sich auch in der Putschnacht: Aus den 85 000 staatlichen Moscheen erschallte bis in den letzten Winkel des Landes der Ruf, sich gegen die PutschistInnen zu stellen. Zum Netzwerk zählen dabei theologische Berufsschulen, religiöse Stiftungen, Medien und diverse sunnitische Gemeinschaften. Sie alle vermitteln der Bevölkerung eine Weltauffassung, in der kapitalistisches Wachstum und islamisch-konservatives Machtstreben in einer aufsteigenden und prosperierenden Nation – der «Grossen Türkei» – vereint sind.

An der AKP hängt somit nicht nur die Bourgeoisie, deren Profite die Partei sichert, sondern auch die stetig wachsende türkische Mittelschicht, die das ideologische Netzwerk auskleidet: politische und bürokratische Funktionäre, Theologen und sonstige Geistliche, aber auch Wissenschaftlerinnen, Künstler, Literatinnen, Journalisten, Gewerkschafterinnen und Technokraten. Ohne sie würde die AKP in der Luft hängen. In der Person des Staatspräsidenten widerspiegelt sich die Weltsicht dieser Mittelschicht: Die Ausdehnung religiöser Anschauungen und Lebensweisen auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie die Kontrolle über Medien und Kultur bilden die Grundlage für eigenen Wohlstand und Status.

Auf diese Weise betrachtet, handelt es sich bei dem aktuellen ideologischen Kampf zwischen Kemalisten, Neofaschistinnen und Islamisten um nichts anderes als um einen Konkurrenzkampf innerhalb der Mittelschicht um den Zugang zu wirtschaftlichen Mitteln. Dabei zeigt das Schicksal der Gülen-Bewegung eindrücklich die Richtung auf, wohin dieser Kampf drängt: zum existenziellen Knock-out der Konkurrenz. Das Netzwerk des Geistlichen Fethullah Gülen wird nun komplett zerschlagen, milliardenschweres Eigentum konfisziert und umverteilt.

Intervention von links

Seit dem Putschversuch entwickelt sich die Türkei noch schneller in Richtung Diktatur. Eine Wirtschaftskrise würde entsprechend auch den Konkurrenzkampf verstärken. Leidtragende wären dabei die finanzschwachen Teile der Bevölkerung. Der Umverteilungskampf könnte jedoch zugleich auch eine Chance sein: Sollten die Aufstiegshoffnungen der ärmeren Bevölkerung platzen, könnte von links interveniert werden. Dafür müsste die sozialistische Perspektive gestärkt werden, die kapitalistische Prinzipien in ihren verschiedenen ideologischen Färbungen als Ursache für den aggressiven Konkurrenzkampf aller gegen alle benennt und Wege aufzeigt, wie sich dieser Kampf demokratisch aufheben liesse. Auch wenn es derzeit nicht danach aussehen mag: Der Juniaufstand, der im Sommer 2013 vom Istanbuler Gezipark ausging, hat gezeigt, wie plötzlich sich solche Chancen ergeben können.

Errol Babacan ist Politologe an der Universität Frankfurt und forscht dort zur politischen Geschichte und Ökonomie der Türkei. Er ist Mitherausgeber des «Infobriefs Türkei».