Dschihadismus und Rechtsstaatlichkeit: Ein Urteil über die denkbare Zukunft

Nr. 31 –

Ein junger Mann ist der Förderung der Terrororganisation IS für schuldig befunden worden, weil er sich in Syrien dem bewaffneten Dschihad anschliessen wollte. Ein heikler Entscheid. Soll ein Gericht eine Tat bestrafen, die noch gar nicht begangen wurde?

Die grosse Verunsicherung ist sichtbar – auch in Bellinzona an diesem Freitag, dem 15. Juli, am Tag nach der Amokfahrt eines islamistischen Attentäters in Nizza, bei der 84 Menschen getötet wurden. Vor dem abgesperrten Eingangstor des Bundesstrafgerichts steht ein schwer bewaffneter Polizist in schwarzer militärischer Montur, den Finger am Abzug seines Maschinengewehrs, über ihm flattert die Schweizer Fahne, und im Schatten einer Säule steht halb im Verborgenen Ahmed J., ein 26-jähriger Mann aus Winterthur. Klein, kräftig und kompakt gebaut, schwarze, kurze Haare, frisch rasiertes Gesicht, den Blick verloren ins Nirgendwo gerichtet, während sein Anwalt Daniel Weber mit den Armen die Luft zerschneidet und ausruft und so entnervt versucht, Fotografen und Kameraleute zu vertreiben.

Ahmed J. ist soeben vom Bundesstrafgericht zu einer bedingten Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten und einer Probezeit von drei Jahren verurteilt worden, weil er die Terrororganisation Islamischer Staat unterstützt haben soll. Anwalt Weber hat die Gerichtsverhandlung in Bellinzona als «PR-Aktion der Bundesanwaltschaft» bezeichnet. Bundesanwalt Michael Lauber hingegen erklärte den Fall im Vorfeld zu einem «leading case»: «Wir wollen wissen, ob es für eine Verurteilung ausreicht, wenn sich jemand physisch an den Flughafen begibt – mit dem Ziel, ins Kampfgebiet zu gehen. Wir sind der Meinung, es reicht.»

Es reicht, findet nun auch das Bundesstrafgericht. Und fällt damit bei der ersten Anklage wegen eines Verstosses gegen das sogenannte IS-Gesetz ein wegweisendes Urteil.

Aber wie kann es sein, dass das Betreten eines Flugzeugs in Zürich als Unterstützung einer Terrorgruppierung ausgelegt wird?

Einer, der auf der Suche war

Den Grundstein dafür legte das Parlament am 12. Dezember 2014. An diesem Tag nahmen beide Kammern das dringliche Bundesgesetz «über das Verbot der Gruppierungen ‹Al-Qaïda›, ‹Islamischer Staat› sowie verwandter Organisationen» an – der Nationalrat einstimmig, der Ständerat mit einer Enthaltung, keine einzige Gegenstimme. Demnach wird bestraft, wer diese Gruppierungen «personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert». Die Bundesanwaltschaft wirft Ahmed J. vor, er habe den IS «auf andere Weise gefördert».

J., weisses Kurzarmhemd, dunkle Halbschuhe, dunkle Jeans, dunkle Jacke, trottet etwas schwerfällig in den kühlen Gerichtssaal von Bellinzona, wo ein Team der Bundesanwaltschaft wartet, ein paar Zuschauerinnen und Journalisten und, ganz hinten im Raum und in Zivil, die Beamten der Bundeskriminalpolizei. Dann – «In piedi, entra la corte!» – setzt sich vorne im Saal, etwas erhöht, Einzelrichter Walter Wüthrich hin.

Der Fall des 26-jährigen Winterthurers ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er dreht sich um die Frage, was und wer einen jungen Mann zur Reise ins Kriegsgebiet Syrien treibt. Und wie die Justiz mit mutmasslichen DschihadistInnen umgehen soll. Und es geht um die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit: Wann und unter welchen Umständen wird eine vermeintlich harmlose Handlung strafbar?

Ahmed J. ist im Kanton Zürich als erster Sohn libanesischer EinwanderInnen geboren. Nach seiner Geburt lebt die Familie ein paar Jahre im Libanon, kehrt dann wieder zurück in die Schweiz. J. wird eingebürgert. In der Schule bekundet er Mühe, er besucht Kleinklassen, macht nach neun Schuljahren eine Anlehre als Autovorlackierer. Danach verdingt er sich als Hilfsarbeiter hier und da, mal im Gartenbau oder bei einer Sanitärfirma. Heute ist er auf Sozialhilfe angewiesen. Der junge Vater wohnt mit fünf Geschwistern, der Mutter, der Partnerin und einem Kleinkind in Winterthur.

Ein Polizist, der J. im letzten Halbjahr begleitet hat, bestätigt dem Gericht, was J. skizziert: Der 26-Jährige hatte in seinem Leben nur wenige Erfolge – er hat nie länger an einem Ort gearbeitet, wurde immer wieder von Gefährten übers Ohr gehauen, erlebte oft Enttäuschungen. Rasch wird klar: Hier steht einer vor Gericht, der auf der Suche war.

«Ein typischer Fall», sagt die Bundesanwältin Juliette Noto. Der libanesisch-schweizerische Doppelbürger bewegte sich in der Winterthurer Salafistenszene, trainierte im Fitnesszentrum des verstorbenen deutschen Ex-Thaiboxmeisters und IS-Kämpfers Valdet Gashi, traf sich mit radikalisierten Freunden fast täglich im Umfeld der An-Nur-Moschee in Winterthur Hegi. Mindestens ein halbes Dutzend aus dieser Szene reiste nach Syrien, um sich dem IS anzuschliessen. Ahmed J. sei «leichte Beute für die Leitwölfe» gewesen, sagt die Bundesanwältin.

Ahmed J. hat während des ganzen Strafverfahrens von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht. Doch jetzt sitzt er in der Mitte des Saals, nestelt am Mikrofon herum und erzählt seine Version: «Ich wollte mich nicht dem IS anschliessen. Ich wollte nur mit meinen Kollegen sein.» Er habe früher jede freie Minute in der Moschee verbracht. Immer wieder sagt J. an diesem Tag über die Freunde, die er dort fand: «Sie waren ehrliche Menschen. Sie waren immer offen. Sie haben mich nicht ausgenützt.»

Er habe schon immer «als Märtyrer sterben» wollen, sagt Ahmed J. «Verstehen Sie mich nicht falsch», schiebt er nach, «ich will nicht in den Krieg, ich will niemanden verletzen. Ich will helfen.» In Syrien wollte er «als Ambulanzfahrer oder so» arbeiten. Er habe bloss den Schritt nie gewagt. Und dann kam die Nachricht, der Ruf eines Freundes, der dort war. «Ich wollte nicht stehen bleiben, den Kollegen nicht einfach so im Stich lassen.»

Nur die Verhaftung hielt ihn auf

Zu diesem Zeitpunkt beobachteten ihn die StrafverfolgerInnen bereits. Verschiedene Winterthurer Jugendliche waren nach Syrien gereist. Mit einigen stand J. in Kontakt. Ab dem 26. März 2015 wurde sein Telefon in Echtzeit abgehört und geprüft, mit wem er im vergangenen Halbjahr wann wie lange kommuniziert hatte. Zudem wurde er beschattet.

Die ErmittlerInnen verfolgten, wie er per SMS ein Flugticket in die Türkei buchte, hörten, wie er seiner Mutter erzählte, er gehe für ein paar Tage nach Deutschland, und als er am 7. April 2015 durch die Passkontrolle am Flughafen Zürich schritt, seine Bordkarte für den Flug TK 1914 der Turkish Airlines vorwies und das Flugzeug nach Istanbul betreten wollte, nahmen ihn Beamte der Zürcher Kantonspolizei auf Anordnung der Bundesanwaltschaft um 14.22 Uhr fest, nur eine Viertelstunde vor Abflug. J. kam zwei Wochen in Untersuchungshaft, wurde mit einer Passsperre belegt und unter der Auflage entlassen, dass er sich mehrmals wöchentlich auf dem Polizeiposten meldet.

Zusammen mit den dschihadistischen Schriften und den einschlägigen Bildern, die man auf seinem Handy fand, mit seinen telefonischen Kontakten und Gesprächen, mit den auf Notizzetteln aufgeschriebenen Namen und Telefonnummern ergab sich für die Bundesanwaltschaft ein klares Bild: Ahmed J. war ein ausreisewilliger Sympathisant der Terrororganisation Islamischer Staat; hätten ihn die Polizisten nicht aufgehalten, hätte er seine schwangere Freundin in der Schweiz zurückgelassen, wäre nach Istanbul geflogen und weiter ins sogenannte Kalifat gereist, um dort als Märtyrer zu sterben.

Nur: Ahmed J. reiste nie aus.

Strafe für eine zukünftige Handlung?

«Das Strafrecht ist eine Reaktion auf eine strafbare Handlung», sagt Marcel Niggli, Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph an der Universität Fribourg (vgl. «Sind Strafen nicht abschreckend?» ). «Es ist der Ausgleich eines Unrechts.» Das Strafrecht sei eigentlich repressiv, aber heute finde mehr und mehr ein Übergang zu einem Präventionsstrafrecht statt. «Man behandelt die Zukunft, als wäre sie vorhersehbar. Diese Präventionsvorstellung ist problematisch. Denn sie basiert immer auf Annahmen, Prognosen. Da bleibt immer eine Unschärfe.»

Tatsächlich weiss niemand mit Sicherheit, ob Ahmed J. gesund in Istanbul angekommen, ob er an die syrische Grenze gefahren wäre. Ob ihm jemand weitergeholfen und er einen Weg ins sogenannte Kalifat gefunden hätte. Niemand weiss letztlich, ob er sich dem IS hätte anschliessen können. Oder wollen. Vielleicht hätte er sich anders entschieden. Das erscheint zwar unwahrscheinlich, aber möglich. Und das ist das unlösbare Problem von Aussagen über die Zukunft: Es gibt zu viele Unwägbarkeiten.

Der Justiz bleiben also zwei Möglichkeiten: Sie nimmt die Unschärfe in Kauf und straft vorzeitig – mit dem Risiko, Unschuldige zu treffen. Oder sie zieht die Zukunft in die Gegenwart, indem sie die Tathandlung zeitlich nach vorne verschiebt. Damit wird nicht erst die eigentliche Tat strafbar, sondern bereits die Vorbereitung.

Die Verlegung der Zukunft in die Gegenwart zeigt sich auch während der Verhandlung in Bellinzona. Strafbar sei nicht nur der Reiseantritt in Richtung Syrien, heisst es von der Bundesanwaltschaft. Bereits die blosse Ankündigung, demnächst könnte ein neuer Unterstützer aus der Schweiz in Syrien ankommen, habe «die Gruppenmoral» des IS gestärkt. Ahmed J. habe somit «psychische Unterstützung» geleistet und gegen das IS-Gesetz verstossen.

So weit geht Richter Wüthrich bei der mündlichen Urteilsverkündung nicht. Zwar erachtet er es als erwiesen, dass sich Ahmed J. dem bewaffneten Dschihad anschliessen wollte. Die Suchprotokolle im Internet, der Austausch mit seinen Freunden, seine Äusserungen in Chats liessen keine Zweifel: J. wollte nicht als humanitärer Helfer nach Syrien, sondern «im heiligen Krieg sterben», und zwar nicht für irgendeine Organisation, «sondern für den IS». Dass es ihm dabei eher um soziale Anerkennung ging als darum, jemanden abzuschlachten, ändere nichts an seiner Absicht. Doch den «point of no return» setzt er an einem anderen Ort an als die Bundesanwaltschaft – beim Zeigen der Bordkarte und dem Betreten des Flugzeugs. Damit sei Ahmed J. nicht nur «reisewillig» gewesen, urteilt der Richter, «er befand sich bereits auf der Reise». Istanbul sei nicht Ferienziel gewesen, sondern Zwischenstation auf seinem Weg in den Dschihad.

Ahmed J. gehörte zweifellos zu jener Clique radikalisierter Jugendlicher und junger Männer im Raum Winterthur, aus der mehrere Personen nach Syrien reisten und vermutlich dort starben. Aber hat Ahmed J. die Terrorgruppierung IS schon «gefördert», weil er nach Syrien reisen wollte?

«Wenn Sie jemanden auskundschaften, weil Sie ihn bestehlen wollen», sagt Marcel Niggli, «dann ist das eine straflose Vorbereitungshandlung. Selbst wenn Sie ins Auto steigen und sich auf den Weg machen, dann ist das noch kein Diebstahl. Typischerweise würde erst ein späterer Zeitpunkt als strafbar gewertet, zum Beispiel, wenn Sie sich nähern oder die Sache behändigen. Aber auch das wäre kein Diebstahl, sondern da würde lediglich der Versuch dazu anfangen.»

Ahmed J. wird an diesem 15. Juli 2016 schuldig gesprochen – nicht der versuchten Förderung, sondern der tatsächlichen Förderung des IS. Sein Anwalt Daniel Weber äussert sich nach der Urteilsverkündung zurückhaltend. Aber wie er vor dem Eingang des Bundesstrafgerichts auf die Fotografen losgeht, mit den Armen rudert, gestikuliert und die JournalistInnen verscheucht, veranschaulicht deutlich: Er hält das Urteil für Schwachsinn.

Ausbürgerung von Dschihadisten? : SEM ignoriert eigenes Gutachten

Soll die Schweiz Dschihadisten ausbürgern? Oder genauer: Darf sie? In welchen Fällen? Und aufgrund welcher gesetzlichen Grundlage? Seit Jahren lancieren rechte PolitikerInnen immer wieder neue Vorstösse, die den «zwingenden Entzug» des Bürgerrechts «für Söldner» oder die «Aberkennung des Bürgerrechts bei Dschihadisten mit Doppelbürgerschaft» verlangen.

Nachdem mehrere Fälle von Dschihadreisenden bekannt geworden waren, strengte das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Mai schliesslich ein Ausbürgerungsverfahren gegen den italienisch-schweizerischen Doppelbürger Christian I. an, einen mutmasslichen Dschihadisten aus Winterthur, der mittlerweile im Kriegsgebiet gestorben sein soll (siehe WOZ Nr. 23/2016 ). Der WOZ liegt nun ein Gutachten des Berner Migrationsrechtsprofessors Alberto Achermann vor, das das Vorgehen des SEM infrage stellt.

Rechtsprofessor Achermann hat in diesem Gutachten unter anderem die Frage der Ausbürgerung von Dschihadisten geprüft und kommt darin zum Schluss, dass «für einen Entzug des Bürgerrechts bei terroristischen Kämpfern in bewaffneten Konflikten zu viele Fragen offen sind».

Das ist erstaunlich, zumal das Kurzgutachten vom SEM selber in Auftrag gegeben wurde und der Migrationsbehörde seit Sommer 2015 vorliegt. Die WOZ hat mit einem Gesuch nach dem Öffentlichkeitsprinzip Einsicht in das Gutachten erhalten.

Bereits der Bundesrat ist 2014 zum Schluss gekommen, dass man Doppelbürger ausbürgern könne, wenn sie sich an besonders schweren Delikten wie Völkermord oder Kriegsverbrechen beteiligten. «Vom Wortlaut ausgehend» wäre laut Achermann ein Entzug des Bürgerrechts bei diesen schweren Verbrechen also grundsätzlich zulässig. Allerdings entstünden bei einer «Vielzahl von Konstellationen» neue Fragen und Voraussetzungen. Deshalb sei «die heutige Regelung nicht genügend substanziiert, um eine genügende rechtliche Grundlage für einen Entzug des Bürgerrechts zu liefern». Offene Fragen seien beispielsweise: Reicht ein Tatbeitrag, die Gehilfenschaft oder die Mitwisserschaft? Braucht es eine rechtskräftige Verurteilung? Und wenn ja, wo? Wäre ein von Geburt an erhaltenes Bürgerrecht anders zu behandeln als ein durch Einbürgerung erteiltes?

Zumal der Entzug des Bürgerrechts gestützt auf die aktuelle Rechtsgrundlage ein starker Eingriff «in eine mit der Geburt entstandene oder durch Einbürgerung erworbene Rechtsposition» darstelle, hält ihn Achermann «aus verfassungsrechtlicher und menschenrechtlicher Optik» für «problematisch».

Carlos Hanimann

Das ganze Gutachten finden Sie hier als Datei im PDF-Format .