Fehde gegen die Justiz: Wenn der Richter nicht mehr atmen kann

Nr. 31 –

Seit Jahren versucht die türkische Regierung, die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Nun ist die Situation unberechenbar geworden. Ein betroffener Richter erzählt.

Wie fühlt es sich an, wenn der grösste Feind die eigene Regierung ist? «Wir können nicht mehr atmen, wir werden erdrückt», antwortet Mehmet Yilmaz. Der türkische Richter ist verzweifelt. Vor zwei Wochen berichtete die AKP-Propaganda-Zeitung «Yeni Safak», bei ihm zu Hause seien US-Dollarnoten gefunden worden, die der Fethullah-Gülen-Bewegung zuzuordnen seien. «Alles gelogen», sagt Yilmaz. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, obwohl er sich früher oft auch öffentlich kritisch zu Wort gemeldet hatte. Doch jetzt ist die Lage in der Türkei so unberechenbar geworden, dass niemand abschätzen kann, welche Repressalien noch drohen könnten.

Ein Mitglied der «Fetö»?

Nur wenige Stunden nach der Niederschlagung des Militärputschs durch die Regierung Erdogan wurden bereits 2745 RichterInnen abgesetzt oder suspendiert – fast ein Fünftel der insgesamt rund 15 000 RichterInnen im Land also. Die Regierung wirft ihnen Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vor, der in den USA im Exil lebt und von der türkischen Regierung für den versuchten Staatsstreich verantwortlich gemacht wird. Sie löste auch die unabhängige RichterInnenvereinigung Yarsav auf. Der 2006 gegründete Berufsverband war der AKP-Regierung gegenüber stets kritisch – konnte sich deren Kontrolle bisher jedoch entziehen.

Zusätzlich will die türkische Staatsanwaltschaft das Privatvermögen von mehr als 3000 suspendierten Richterinnen und Staatsanwälten beschlagnahmen lassen – auch Angestellte des Verfassungsgerichts befinden sich darunter. Somit wird die kemalistisch-säkulare Bastion, die als Hort der Erdogan-HasserInnen gilt, angegriffen. Seit der Ausnahmezustand angeordnet wurde, können JuristInnen, denen eine Verbindung zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird, ohne Beweise in Untersuchungshaft gesteckt werden. Entsprechend sassen vergangene Woche laut Angaben des Innenministeriums 1600 Richter und Staatsanwältinnen in Untersuchungshaft.

«Bei dieser ‹Säuberungswelle›, wie die Regierung es nennt, sind nicht nur mutmassliche Unterstützer des Putschs, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan festgenommen worden», sagt Mustafa Karadag, Vorsitzender der RichterInnengewerkschaft Yargiclar. Auch Mehmet Yilmaz wird vorgeworfen, Mitglied der, wie es die Regierung nennt, «Fetö» («Fethullahci Terör Örgütü» – Terrororganisation der Fethullah-Anhänger) zu sein. Er selbst bestreitet jede Sympathie für den Geistlichen. «Ich habe nichts mit der Gülen-Bewegung zu tun», sagt Yilmaz.

Ein Etappensieg nach dem anderen

Der Feldzug der Regierung gegen unliebsame Mitglieder der Justiz hatte bereits vor dem gescheiterten Putschversuch und der darauffolgenden Repression begonnen. Seit Jahren streiten sich im türkischen Justizsystem drei Gruppen um die Macht: die seit Jahrzehnten etablierten kemalistischen JuristInnen, AKP-treue Rechtsausleger und die Gefolgsleute Gülens. Die erste offene Auseinandersetzung begann am 1. Mai 2007, als das Verfassungsgericht auf Antrag der Opposition die Wahl des damaligen Aussenministers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten durch das Parlament annullierte. Erst nach vorgezogenen Neuwahlen wurde Gül, ein langjähriger Weggefährte Erdogans, im August 2007 doch noch zum Regierungschef gewählt. 2008 entschied das Verfassungsgericht über den Antrag eines regierungskritischen Staatsanwalts, der die AKP verbieten lassen wollte. Sechs der elf Richter stimmten damals für das Verbot – sieben Stimmen wären nötig gewesen.

Es überrascht daher nicht, dass Erdogan irgendwann anfing, gegen KritikerInnen innerhalb der Justiz vorzugehen. Sein erster Etappensieg gelang ihm am 12. September 2010 mit einem Verfassungsreferendum: Es wurde entschieden, dass die 22 Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) künftig vom Staatspräsidenten ernannt werden sollten. Der HSYK, neben dem Verfassungsgericht das wichtigste juristische Gremium in der Türkei, ist zuständig für die Beförderung von Richtern und Staatsanwältinnen und galt bis anhin als Sammelpunkt von Erdogans GegnerInnen.

Eine weitere Intervention erfolgte nach dem Korruptionsskandal, der das Land im Dezember 2013 erschütterte. Erdogan bezichtigte die Gülen-Bewegung, die Schmiergeldvorwürfe angefacht zu haben, durch die führende Politiker aus dem AKP-Umfeld in Bedrängnis geraten waren. Die Ermittlungen bezeichnete Erdogan als «Putsch der Justiz», und er liess Tausende PolizistInnen, Richter und Staatsanwältinnen in die Provinzen versetzen oder entlassen.

«Wir werden von der Regierung und ihren Anhängern gejagt», sagt Yilmaz. Auch er wurde Opfer dieser ersten «Säuberungswelle». Als zuständiger Richter liess er Ermittlungen gegen AKP-Mitglieder zu und erlaubte sich, in den Anhörungen kritische Fragen zu stellen. Vergangenes Jahr starteten regierungsnahe Medien eine Hetzkampagne gegen ihn – sein Foto war auf der Titelseite des AKP-Blatts «Yeni Safak», die ihn als Terroristen und Gülen-Anhänger denunzierte. Daraufhin wurde Yilmaz dreimal innerhalb eines Jahres strafversetzt. Von Istanbul aus musste der Richter erst nach Tekirdag, dann nach Mersin im Süden des Landes. Zuletzt arbeitete Yilmaz in Sanliurfa nahe der syrischen Grenze. «Meine Frau und meine Tochter sind jeweils mitgezogen», sagt er. Für die Familie sei diese Erfahrung zermürbend gewesen.

Flucht ins Ausland

Bereits Anfang Juni waren rund 3700 Richterinnen und Staatsanwälte ausgewechselt worden, die ebenfalls Gülen nahestehen sollen. Wenige Tage später verabschiedete das Parlament eine umstrittene Justizreform der AKP, die einen Abbau von RichterInnenstellen vorsieht und Erdogan das Recht einräumt, RichterInnen persönlich zu ernennen. Mit der Reform, die vor allem den Kassationshof und den Staatsrat und damit zwei der höchsten Gerichte des Landes betrifft, hat Erdogan die Justiz faktisch zum Handlanger der Exekutive gemacht. So soll die Zahl der Mitglieder im Kassationshof von 516 auf 310 gesenkt werden, im Staatsrat von 176 auf 116. «Diese Änderungen sind verfassungswidrig», sagt Gewerkschafter Karadag. Denn sobald das Gesetz in Kraft tritt, werden alle Mitglieder der beiden Gerichte ausser der Führungsriege ihren Posten verlieren. Für deren Neuwahl ist der mittlerweile auf Regierungskurs getrimmte HSYK zuständig.

Die in der Justiz entstandene Lücke soll übrigens bald geschlossen werden. Justizminister Bekir Bozdag kündigte die Einstellung von 3000 neuen Richterinnen und Staatsanwälten an. Damit dürfte die Justiz der Regierung gegenüber bald gänzlich loyal sein.

Mehmet Yilmaz sieht inzwischen nur noch eine Lösung: Er muss weg. Lange Zeit hat er sich gegen den Gedanken gewehrt, mit seiner Familie ins Ausland zu flüchten. Doch jetzt sieht er keine andere Möglichkeit mehr.