Im orientalischen Spiegel: Das lange Warten vor den Toren Brüssels

Nr. 31 –

Die Europäische Union versprach Nähe – und hielt die Türkei doch über ein halbes Jahrhundert lang auf Distanz. Das hat auch mit der Konstruktion einer europäischen Identität zu tun.

Im Sturm der allgemeinen Empörung über Recep Tayyip Erdogans «Märchenstunde» in der ARD, wie deutsche Medien schrieben, wäre eine entscheidende Bekundung beinahe untergegangen. «Wir stehen seit 53 Jahren vor der Tür der Europäischen Union», liess der beleidigte türkische Präsident vergangene Woche im TV-Interview verlauten.

Auch wenn die Worte Teil von Erdogans Inszenierung fürs eigene und fürs europäische Publikum waren, trifft er damit einen wunden Punkt. Tatsächlich hatte das Gefeilsche um den türkischen EU-Beitritt vor mehr als fünf Jahrzehnten begonnen. Bereits viel länger wurde die Frage nach der Kompatibilität des mehrheitlich muslimischen Landes im Spiegel der eigenen Identität verhandelt. Und viel länger schon ist Europa bestrebt, das eigene Selbstverständnis in Abgrenzung zum «orientalischen Anderen» zu definieren. Letztlich referierte Erdogan selbst auf die europäische Furcht vor dem «Türken vor den Toren Wiens».

«Wir sind heute Zeugen eines Ereignisses von grosser politischer Bedeutung. Die Türkei gehört zu Europa», verkündete der erste EWG-Kommissionspräsident Walter Hallstein im September 1963. Der konservative deutsche Politiker war eigens nach Ankara gereist, um die Türkei näher an Europa zu binden. Mitglied von Nato, Uno und Europarat war das Land zu diesem Zeitpunkt bereits. Mit ihrer Annäherung ging es der EWG in erster Linie um strategische Interessen: Im Stellvertreterkrieg um Einflusssphären wollte man die Türkei auf der «richtigen» Seite wissen. Sie sollte keinesfalls mit den kommunistischen Staaten paktieren.

Ein unumkehrbarer Weg

Gegen Ende des Kalten Kriegs markierte die EG dann wieder Distanz. «Ein Verbündeter, ein Freund klopft an der Tür, aber den EG-Europäern bleibt der Willkommensgruss im Halse stecken», schrieb die «Zeit» 1987. Ankara hatte gerade ein Aufnahmegesuch eingereicht – und die EuropäerInnen damit in Erklärungsnot gebracht. Sie erinnerten sich daran, wie türkische Streitkräfte auf Zypern einmarschiert waren, wie das Militär in der Türkei gegen die eigene zivile Regierung geputscht hatte. Auch die schwierige wirtschaftliche Situation am Bosporus sprach aus Sicht der EG nicht für einen Beitritt.

Sie lehnte Ankaras Gesuch aufgrund der «instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage» ab, der Beitritt zum Staatenbund rückte in weite Ferne. Stattdessen erhielt die Türkei lediglich das Versprechen einer Zollunion. Wie auch im Umgang mit anderen Beitrittskandidaten verfolgte Brüssel gegenüber der Türkei eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Beziehung stark auf wirtschaftspolitische Aspekte fokussiert: Mit dem Ziel, irgendwann zum europäischen Klub zu gehören, öffnete die Türkei 1996 als erster Nicht-EU-Staat ihren Markt für den freien Warenverkehr. Drei Jahre später wurde ihr in Helsinki dann doch noch der offizielle Status eines Beitrittskandidaten verliehen, nachdem sich das EU-Parlament dafür ausgesprochen hatte.

Im Anschluss setzte die Türkei weitreichende Reformen um, schaffte etwa die Todesstrafe ab. Und Recep Tayyip Erdogan bekräftigte den Wunsch seines Landes, in die EU aufgenommen zu werden. «Die Türkei ist auf dem Weg, EU-Mitglied zu werden – und dieser Weg ist unumkehrbar», erklärte der damals frisch gewählte Ministerpräsident.

Merkels Wende

Begleitet wurden die Beitrittsgespräche von einer aufgeregten identitätspolitischen Debatte in den europäischen Feuilletons und Kommentarspalten. Die Rechten beschworen die «europäischen Werte», mit denen die Türkei aufgrund ihrer Mehrheitsreligion per se nicht kompatibel sei. Und in der «Zeit» konstatierte der einflussreiche Historiker und prominente Beitrittsgegner Heinrich August Winkler, dass dem Land die «historischen Voraussetzungen und kulturellen Prägungen für ein europäisches Wir-Gefühl» fehlten. Der Islam und das Christentum seien so unterschiedlich, dass Winkler die «kollektive europäische Identität» gefährdet sah.

Deutschlands rot-grüne Regierung unterstützte den Beitrittsprozess trotz des Widerstands, und 2005 begannen die Verhandlungen auch offiziell. Die Kompatibilität der Türkei mit der EU war im laufenden Wahlkampf ein brisantes Thema und vermochte zahlreiche konservative WählerInnen zu mobilisieren. Als Angela Merkel wenig später Kanzlerin wurde, kehrte Deutschlands offizielle Politik erneut – Merkel gehörte zu den vehementesten GegnerInnen eines EU-Beitritts. Weil die Gespräche jedoch bereits in Gang waren, liess die Kanzlerin sie offiziell laufen – und setzte zugleich alles daran, es bei Gesprächen zu belassen. «Für die Türkei gibt es keinen Platz in Europa», bekräftigte später auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. Die EU ging erneut auf Distanz.

Besonders in Deutschland wurde die Beitrittsfrage stets zur Klärung der innenpolitischen Verhältnisse instrumentalisiert. Bereits Kaiser Wilhelm hatte eine deutsch-türkische Allianz geschmiedet. Und spätestens mit dem Eintreffen türkischer GastarbeiterInnen war das Schicksal der Türkei eng mit dem Deutschlands verknüpft. Doch auch Frankreich spielte bei der Blockade stets eine entscheidende Rolle.

An der Beziehung der Türkei und der EU zeigt sich jedoch vor allem etwas Grösseres: Vielleicht war kein anderes Land für die EU so nützlich dabei, eine eigene Identität, ihre viel beschworenen Werte zu definieren. «Weil jede Suche nach der eigenen Identität in Abgrenzung zum Anderen passiert, ist Identitätspolitik auch immer und notwendigerweise eine Politik, die die Unterschiede erst erzeugt», schrieb die US-Politologin Seyla Benhabib über solche Mechanismen.

Das perfekte Instrument

Irgendwann hatten die meisten EuropäerInnen beinahe vergessen, dass es die Debatte um den türkischen EU-Beitritt je gegeben hatte. Doch angesichts des Flüchtlingstrecks nach Europa rückte Ankara im vergangenen Jahr wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Innerhalb weniger Monate flog Angela Merkel im Spätherbst 2015 mehrmals in die Türkei und liess sich medienwirksam mit Erdogan ablichten, der inzwischen Präsident war. Die seit Jahren eingefrorenen Verhandlungen wurden wieder aufgenommen, die seit Jahrzehnten versprochene Visafreiheit für türkische BürgerInnen, die umgekehrt übrigens schon längst galt, sollte endlich Realität werden. Die EU zahlte jedoch einen hohen Preis, damit Erdogan die Flüchtlinge von Europas Aussengrenzen fernhielt: Sie machte sich vom türkischen Machthaber abhängig, gab ihm mit dem Streit um die Visafreiheit ein perfektes Druckmittel in die Hand. Und inzwischen steht der schmutzige Deal mit dem Leben der Flüchtlinge ohnehin vor dem Aus.

Letztlich hat die EU mit ihrer Zickzackstrategie von Nähe und Distanz über die Jahrzehnte viele Hoffnungen progressiver Kräfte in der Türkei enttäuscht und so Symphatien verspielt. Doch zugleich bot die Lobhudelei der EU in Bezug auf sich selbst für diese Kräfte auch Anschlusspotenzial. «Für uns war Europa mehr als nur ein Ort, um Arbeit zu finden, mit dem wir Handel treiben konnten oder dessen Investoren wir anzulocken versuchten; es war in erster Linie ein Leuchtfeuer der Zivilisation», sagte der türkische Bestsellerautor Orhan Pamuk 2012 an einer Preisverleihung in Kopenhagen. Ob die EU weiterhin ein positiver Fixpunkt für die progressiven Kräfte bleibt, wird sich nach ihrer neuerlichen Kehrtwende weisen.