Anjuska Weil: Die Partisanentochter kann nicht anders

Nr. 33 –

Ein Leben zwischen Thurgauer Dorf, israelischem Kibbuz und Zürcher Kantonsrat: Anjuska Weil wird siebzig – und erinnert sich an die brutalen Folgen des Vietnamkriegs, an die Dicke ihrer Staatsschutzfiche und an enttäuschte sozialistische Ideale.

«In Italien nennt man die 68er-Generation ‹Generazione Vietnam›, das passt mir besser»: Anjuska Weil in ihrer Wohnung in Zürich.

Es war nur ein schmaler Streifen Land zwischen Wasser und Küstenstrasse. Wenn es stürmte, war das Mittelmeer eine schwarze Wand. Im trockenen Sommer brannte der Berg Carmel, der seinen grossen Schatten auf die Holzbaracke warf. Solange es die Flammen nicht über den Asphalt schafften, seien sie sicher, tröstete die Mutter ihre Tochter Anjuska. Angst hatte das Mädchen, wenn die Nachbarin einen ihrer Anfälle hatte. Dann schrie die Frau, dass es einem die Knochen zersägte – das Grauen der Konzentrationslager lag noch in ihrer Stimme.

Anjuska Weil – die damals Goldstein hiess – packte in solchen Momenten ihren Spielkameraden an der Hand und rannte weg. «Wir fanden jeweils Unterschlupf bei der palästinensischen Nachbarsfamilie.» Zwei Jahre lebte sie in Israel. Der Sand, die flirrende Hitze, das knarrende Holz: Alles ist noch da. Als die Familie an die Asylstrasse in Zürich zieht, liegt brauner Schneematsch auf der Strasse. «Plötzlich lebten wir aufgestockt in der vierten Etage, unter uns zwei alte Schwestern, die mit dem Besenstiel an die Decke klopften, wenn ich etwas zu laut vom Sofa sprang.»

Auch heute lebt Weil wieder in Zürich. In ihrer Wohnung stapelt sich das Erinnerungsarsenal eines bewegten Lebens: asiatische Fächer, Gemälde, Holzpuppen, tonnenweise Bücher. Es sind zwei Weltregionen, die Weil ein Leben lang beschäftigt haben: Vietnam und der Nahe Osten. Bis heute ist die Siebzigjährige Präsidentin der Vereinigung Schweiz–Vietnam. Und sie hat die «Kampagne Olivenöl» mitbegründet – ein Projekt, mit dem BäuerInnen in den besetzten Gebieten unterstützt werden. Alles lässt sich gar nicht aufzählen – PdA-Politikerin war Weil, für die FraP! (Frauen macht Politik!) sass sie im Zürcher Kantonsrat, sie engagierte sich für die Pinochet-Flüchtlinge, Portugiesinnen und Spanier, die vor den faschistischen Regimes in die Schweiz flüchteten. Als Ende der achtziger Jahre der Fichenskandal ans Licht kommt, händigt man ihr ein grosses Paket aus. Erstaunt habe sie das nicht. «Ich war bloss überrascht, auf welch unwichtige Details die sich konzentrierten.»

Schock im Kibbuz

Der Blick zurück erscheint Weil manchmal verzerrt. Sie zumindest sei nicht durch die 68er-Bewegung politisiert worden. «Ich hatte das Gefühl, dass in der Gesellschaft endlich ankam, worüber meine Familie im Kalten Krieg nur hinter verschlossenen Türen gesprochen hatte.»

Als Weils Familie aus Israel in die Schweiz zurückkehrte, war sie staatenlos. Der Vater, ein Kundschafter der Tito-Partisanen, war im Zweiten Weltkrieg von Jugoslawien in die Schweiz geflüchtet, wo er Anjuska Weils Mutter kennenlernte. Die Ausreise nach Israel sollte ein Neuanfang für die Familie werden, doch die sozialistischen Ideale des Vaters, der dort sofort ins Militär eingezogen wurde, wurden enttäuscht. «Er sprach mit mir nie direkt darüber», sagt Weil. Doch seien Andeutungen hängen geblieben. «Einmal sagte er: ‹Das Beste am israelischen Militär war, dass ich dir eine Schildkröte gefunden habe.›»

Revolutionäre Folgsamkeit

Anjuska Weil ist achtzehn Jahre alt, als sie ihren zukünftigen Mann kennenlernt: Jochi Weil, ein Schweizer Jude. Mit ihm reist Anjuska Weil nach dem Sechstagekrieg in einen Kibbuz. Nach drei Monaten sind sie wieder zurück in der Schweiz.

Für ihren Mann sei die Konfrontation mit der Realität hart gewesen. «Er glaubte an das zionistische Ideal. Doch wie die Kibbuzbewohner über den Krieg und die Araber sprachen, hat uns schockiert.» In der Schweiz ziehen sie in ein Thurgauer Bauerndorf, Anjuska arbeitet in einem Kindergarten, Jochi unterrichtet an der örtlichen Schule. An den Wochenenden fahren sie nach Zürich, um zu demonstrieren. In Italien nenne man die 68er-Generation «Generazione Vietnam», sagt Weil. Das passe ihr besser: «Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, den meine Generation bewusst miterlebte – und erstmals gab es auch Fernsehbilder davon.» Für Weil bleibt er nicht nur Theorie: Die Eltern nehmen einen Jungen auf, der in der Schweiz wegen seiner Napalmverbrennungen operiert wird. «Ich weiss, wie sich das anfühlt, die klumpigen Narben in der Haut eines Kindes, wie Plastik. Man musste sie ihm herausschneiden, damit wieder Blut durch die Adern fliessen konnte.»

Anjuska Weil und ihr Mann werden später zwei Kinder adoptieren: Einen Sohn aus Nordafrika und eine Tochter aus Südkorea. In der Ostschweiz gründet sie mit ihrem Mann eine Sektion von Terre des hommes. Manchmal, sagt sie, erscheine ihr das ganze Engagement gar nicht so revolutionär. Eher wie das Folgsamsein einer braven Tochter. Sie erinnere sich gut an die Gespräche in der israelischen Holzbaracke: «Die Freunde meiner Eltern pflegten damals zu uns zu sagen, sie hätten alles für uns getan. Ich weiss nicht, ob sie die Gründung des Staates Israel meinten – oder vielmehr ihren Widerstand im Zweiten Weltkrieg.» Aber es sei wohl schon so, sagt Weil: «Als Partisanentochter konnte ich nicht anders.»